Deliveroo, Helpling & Co: Arbeiten auf der Plattform
Von Weitem sieht die Gruppe aus wie eine Mopedgang. Es ist dunkel, zwei Grad über null und in der Weserstraße in Neukölln haben sich wie jeden Abend Fahrradkuriere von Deliveroo versammelt. Alle paar Minuten kommt einer hinzu, ein anderer guckt plötzlich aufs Handy und verschwindet kurz darauf in den umliegenden Straßen. Das Wetter ist für die Fahrer gut heute. Bei Schnee bleibt oft nur der nahe gelegene Waschsalon, um auf den nächsten Auftrag zu warten. Und von wo der kommt, wissen sie vorher nicht. „Sieben Euro fünfzig bekomme ich die Stunde”, erzählt eine Fahrerin, dazu ein Euro pro Lieferung. Der Kollege neben ihr hingegen arbeitet als angestellter Midi-Jobber und bekommt neun Euro die Stunde. Trinkgeld gibt es auch manchmal. Das Gehalt ist okay, finden die beiden. „Ich bin ja gerade erst aus einem anderen Land hergezogen“, sagt er. Andere Jobs wären schwerer zu bekommen.
Das mit dem guten Gehalt sehen nicht alle so. Die Fahrer müssen ihr Fahrrad selbst kaufen und warten. Hinzu kommen Smartphone samt Handyvertrag mit entsprechendem Datenvolumen, damit die Deliveroo-App sicher läuft. Denn ohne Anbindung an die Planungsalgorithmen der Plattform sitzen hier keine Kuriere, sondern orientierungslose Fahrradfahrer, die sich kaum kennen.
Die Ausweitung
Wie gerade anlässlich des vierten Geburtstags von Deliveroo veröffentlicht, konnte das Startup im letzten Jahr gigantische Wachstumsraten verzeichnen. Global beschäftigt die Firma demnach inzwischen 30.000 Fahrer (gut 1.000 davon in Deutschland), das Bestellvolumen stieg 2016 um 650 Prozent. Hierzulande arbeiten inzwischen 2.000 Restaurants mit der Plattform, weltweit sollen es sogar 20.000 sein. Die Partnerrestaurants konnten so ihren Umsatz um bis zu 30 Prozent steigern ohne eine eigene Kurierflotte aufzubauen, teilte das Unternehmen mit.
Deliveroo ist aber nur eine Plattform unter immer mehr. Airbnb vermittelt Privatwohnungen an Touristen, Uber Autofahrten an ehemalige Taxikunden, Helpling Putzkräfte und Ohlala Prostitution. Gigwork nennt sich das, wie Florian Schmidt in einem Diskussionspapier erklärt, das diese Woche bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin vorgestellt wurde. Davon unterscheidet er Plattformen wie Crowd Guru oder Amazon Mechanical Turk, wo Jobs nach sehr kurzen Einzelaufgaben bezahlt werden, die online zu erledigen sind. Beispielsweise nach dem derzeit billigsten Flug von A nach B zu suchen und den Preis irgendwo einzutragen, oder eine Produktbeschreibung zu verfassen. Vieles, was in der Digitalisierung als automatisch wahrgenommen wird, muss noch immer von Menschen gemacht werden.
Der neue Zugang
Den Kunden vereinfachen die Plattformen das Leben, schenken Zeit, wenn der Lieferdienst das warme Abendessen bringt oder eine Reinigungskraft nach ein paar Mausklicks die Wohnung putzt. Die Plattformen füllen oft Lücken im früheren Dienstleistungsangebot, meint Gerd Billen, Staatssekretär im Verbraucherschutzministerium. Es sei zu einseitig, solche neuen Modelle pauschal schlechtzureden.
Auch manchen Arbeitnehmern bieten sie neue Chancen. Beispielsweise jenen, die von zu Hause aus arbeiten müssen, wie der Crowdworking-Experte der IG Metall, Robert Fuß, sagt. Alleinerziehende zum Beispiel oder Menschen mit Behinderung. Fuß hat deshalb die Plattform Fair Crowdwork Watch mit aufgebaut, in der Crowdworker über ihre Arbeitsbedingungen austauschen können. Er weist aber aber auch auf das Potenzial hin, dass Outsourcing nun bis zum einzelnen Arbeiter vordringen kann. So gibt es beispielsweise vereinzelt auf Plattformen Designer-Aufträge für ausgesuchte Autoteile, statt diese in den eigenen Abteilungen zu entwickeln. Gemeinsam haben die Plattformen nämlich, dass sie sich meist als Vermittler von Dienstleistungen verstehen, nicht als Arbeitgeber.
Digitales Prekariat
Und da beginnt das Problem. Damit die Unternehmen wenig Personalkosten haben, arbeiten oft hauptsächlich Soloselbstständige für Honorare, die unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegen. Für sie gelten dann keine Arbeitszeitregelungen, kein Gesundheitsschutz, keine ausreichende soziale Absicherung – vor allem, wenn sie über längere Zeit so arbeiten. Stefan Körzell, Vorstandsmitglied des DGB, mahnt: „Hier entsteht ein neues digitales Prekariat.“
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat in seiner Studie „Arbeiten auf Onlineplattformen: selbstständig oder abhängig?“ exemplarisch drei Plattformen auf dieses Risiko hin untersucht: My Hammer, über das Handwerksbetriebe ihre Leistungen anbieten; die Putzvermittlung Helpling und Clickworker, wo Texte oder Webrecherchen angeboten werden. Während My Hammer tatsächlich nur ein Vermittler zwischen Unternehmen und Kunden sei, beobachtet das DIW bei den anderen beiden Plattformen, wie die Grenze zwischen Soloselbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung verwischt.
Sein oder selbstständig sein
In beiden Fällen bestimmen die Plattformen Zahlungsabwicklung und Preis. Helpling gibt diesen beispielsweise je nach Größe der Wohnung und optionalen Zusatzleistungen vor. Schwer nachzuvollziehen, wie viel Arbeit das letztlich ist. Helpling widerspricht dem Vorwurf der Scheinselbstständigkeit. „Die selbstständigen Reinigungskräfte registrieren sich online und entscheiden frei, wann und wo sie Aufträge von Kunden annehmen möchten. Damit verwalten die Reinigungskräfte autonom ihre Kunden über die Plattform“, sagt eine Sprecherin. Der tarifliche Mindestlohn für Reinigungskräfte beträgt zehn Euro brutto in Westdeutschland und 9,05 Euro in Ostdeutschland.
Über Helpling bekommt jemand in München 14 Euro, in Köln zwölf und in Berlin elf Euro. Das DIW betont aber, dass der Stundenlohn nach Abzug von Vermittlungsgebühr und Fahrtkosten, Kranken- und Rentenversicherung unter dem Branchenmindestlohn liegt. Laut Gewerkschaft müsste eine Reinigungskraft bei Helpling „mindestens 20 Euro“ verdienen. Ob es die öffentlichen Vorwürfe waren oder die Beschwerden von Kunden, dass Putzkräfte oft kurzfristig absagten, zu spät erschienen oder schlecht putzten: Der Berliner Konkurrent von Helpling, Book A Tiger, stellt Putzkräfte jetzt fest ein.
Nichts Neues aber neuer Protest
Dass viele Selbstständige prekär leben und stärker von Altersarmut betroffen sind, gibt es nicht erst seit den Plattformfirmen. In Deutschland ist nach aktuellen Erhebungen auch nicht erkennbar, dass selbstständige Erwerbstätigkeit wegen des digitalen Wandels zunimmt. In den USA aber, wo Plattformen höhere Marktanteile haben, sind heute 28 Prozent der Arbeitenden offiziell selbstständig. Das Softwareunternehmen Intuit prognostiziert, dass es 2020 schon 40 Prozent sein werden.
Einige der Experten schlagen deshalb ein Absicherungssystem in Anlehnung an die Künstlersozialkasse vor. Vergleichbar mit Arbeitnehmern müssen die versicherten Künstler und Publizisten die Hälfte der Beiträge aus ihrem Einkommen aufbringen – die andere Hälfte übernimmt die Sozialkasse. Dieses System könnten sich auch Gewerkschaften und einige Plattformbetreiber vorstellen. Die Gehälter der Selbstständigen wird das jedoch nicht zwangsläufig erhöhen. Vor allem, weil sie bislang kaum in Gewerkschaften sind. Sie müssten sich selbst organisieren. Wie letzten Herbst in London. Dort sollten die Fahrer künftig nur noch pro Lieferung bezahlt werden, ohne festen Stundenlohn. Die Fahrer sammelten dann über Crowdfunding mehrere tausend Pfund als Streikfonds – und stoppten vorübergehend die Essensauslieferung. Parallel gründeten sie eine internationale Publikation, mit der sich Deliveroo-Fahrer über die Arbeitskämpfe in den einzelnen Ländern austauschen.
In Berlin wird dieses neue Bezahlmodell nun auch ausprobiert. 4,75 bekommen die Fahrer dabei pro Lieferung, wie Deliveroo bestätigt. Das lohnt sich für mich trotzdem, sagt einer der Fahrer. Zumindest, solange das Wetter schlecht ist und viele Leute Pizza bestellen.