Flanieren im Datendschungel. Zooming fordert seine Spieler auf, durch's Netz zu streunern.

Top-Trend »Zooming!«

Ein paar Nerds haben es beim Klicken durch Wikipedia entdeckt. Dann haben ihre Kumpels mitgemacht. Und bald war »Zooming!« ein weltweiter Hype. Hier die Anleitung.

Erste Schritte

Spielvorbereitung: Einen oder mehrere Mitspielerinnen und Mitspieler versammeln. Smartphones hervorholen. Einen beliebigen Wikipedia-Artikel als Startpunkt auswählen. Zum Beispiel “Chris Dercon”. Dann versuchen, über Verknüpfungen vom Startpunkt zu einem ausgewählten Zielartikel zu kommen. Zum Beispiel “Gefängnisstrafe”.

Für Anfänger kommt hier die Lösung: Bei “Dercon” muss man nur auf den Link zu “Volksbühne” klicken, dort auf “Besetzung”, um weiter auf “Hausfriedensbruch” zu springen. Jetzt fehlt nur noch ein Sprung, schon ist man bei “Gefängnis” gelandet. Und wer zuerst da ist, hat gewonnen.

Zweite Schritte

Es geht natürlich auch komplizierter. Etwa mit dieser Aufgabe: Wie schnell lässt sich bei Wikipedia der Eintrag über “Witz” mit dem über den “Flughafen Berlin Brandenburg” verbinden?

Hier wieder die Lösung: Man klickt in diesem Fall beim Artikel “Witz” auf das verlinkte Stichwort “Bonmot”. Im Artikel “Bonmot” klickt man auf “Geflügeltes Wort”. Von dort geht es weiter zu “Sprichwort”, zu “Reim”, dann zu “Rede”, “Zimmermannsspruch”, “Richtfest”, “Spatenstich” … und jetzt noch einen Klick, schon ist man beim BER. Wahrscheinlich muss man dafür länger knobeln. Oder man wird sich verlaufen. Aber dass man auf schnellstem Weg beim neuen Flughafen ankommt, erwartet ohnehin niemand mehr.

Spielerweiterung

“Zooming!” boomt allerdings heute nicht bei Wikipedia. Es hat sich verlagert auf die Seiten der Onlineshops, Streamingdienste und Datingplattformen. Dort entstehen die dynamischen Verknüpfungen, die unsere Gegenwart zusammenhalten. Und alle knüpfen wohl oder übel mit. Das Zauberwort dafür: Cross-Selling. Wer Objekte auswählt, Filme anschaut oder Songs hört, erhält prompt weitere Vorschläge:

“Kunden, die sich für diesen Artikel interessiert haben, interessierten sich auch für …”

Mit solchen Verknüpfungen hält man die Leute im Shop. Wo sie sich immer weiterbewegen im Zauberraum der Wünsche nach weiteren Konsumobjekten. Zugleich zieht jede Bewegung eine weitere Spur. Jede bestätigt eine bereits bestehende Verbindung zwischen den Angeboten. Oder sie legt eine neue, die dann den nächsten Besuchern angeboten wird. Diese Spuren sind viel feiner als bei Wikipedia. Und beweglicher. Marktforscher wissen: In den Veränderungen der Spuren drücken sich die aktuellen Trends aus. Wer mitspielen will, muss sich deshalb in einen Leser der Kultur verwandeln, der bereits bestehende Zusammenhänge kennt und neue zielgenau erraten kann.

Spielvariante 1: Effizienz

Jeder Klick zählt: Wie kommt man am schnellsten zum Beispiel bei Spotify von “Shape of You” von Ed Sheeran zu “Baby One More Time” von Britney Spears?

Die Lösung lautet: Little Mix - Carly Rae Jepsen - Selena Gomez. Wer versucht, über Oly Murs zum Ziel zu kommen, muss dann über Leona Lewis und Christina Aguilera zoomen, sonst verläuft man sich in Richtung Take That und Robbie Williams und endet im Gebiet der Schlagerschnulzen. Um es etwas lustiger zu machen, kann man alternativ auch AC/DCs “Back in Black” als Zielpunkt wählen. Oder die französische Variante von “Hey Joe” in der Aufnahme von Johnny Hallyday.

Spielvariante 2: Eleganz

Man muss nicht unbedingt auf Geschwindigkeit spielen. Es geht auch mit Eleganz. Wer kann zum Beispiel in zehn Schritten den Weg von den Carmina Burana aus der Deutschen Oper in Berlin von 2011 bis zu “She’s The One” von Robbie Williams gehen und dabei Schritt für Schritt eine Reihe von Songs zu einer Playlist auffädeln, die durch alle Höhen und Tiefen führt und das Herz berührt?

Oder eine Herausforderung für Literaturfans: Wer kann bei Amazon Thomas Manns “Der Zauberberg” (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe) auf ebenso schöne wie überzeugende Weise in fünf Schritten mit Stefanie Sargnagels aktuellem Bestseller “Statusmeldungen” verbinden?

Das ist der eigentliche Trend: “Zooming!” bringt neue Flaneure und Flaneusen im Netz hervor. Die lassen sich durch die Angebote treiben, um zu verstehen, mit welchen Verbindungen sich das Neue ankündigt. Denn: Spieler, die sich für diese Gesellschaft interessierten, interessierten sich auch für die nächste. Wer zuerst da ist, hat das Match gewonnen.

Spielvariante 3: Ethnologie

Kein Wunder, dass “Zooming!” sogar auf Plattformen für Beziehungsanbahnung funktioniert. Wer hier mitmacht, will Leute angucken und neueste Inszenierungen sehen. Als Elite-Partner oder Elite-Partnerin darf gelten, wer es etwa bei Tinder vom verstörenden Flirt-Angebot mit Profilfoto aus dem Campingurlaub 1998 in Osnabrück und den Hobbys Grünkohlwanderung und Überraschungseiersammeln in zehn Klicks zum Serienfilmstar hinüberschafft, ein Match landet und ein Date verabredet.

So wie das Real-Life-Küssen für diese User gar nicht mehr so interessant ist, geht es auch bei den Rennen in den Onlineshops längst nicht mehr ums Kaufen. Das Spiel ersetzt den Konsum. Die vorgeführte Kennerschaft um die geheimen Verknüpfungen der Kaufvorschläge ersetzt den Besitz. Man prüfe sich selbst. Und beim nächsten Spiel auch die Freunde und Bekannten: Wer wird Super Mario oder Super Maria im Labyrinth der Datenbanken?

Dieser Text ist zuerst in gedruckter Form in unserem Magazin Tagesspiegel BERLINER erschienen. Sie können ihm auf Twitter unter @tspBRLNR folgen.

Der Autor twittert unter @stporombka und postet als stephan_porombka bei Instagram. Außerdem ist er Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der UdK Berlin.