Verhüten mit dem Smartphone?
Wer Ida Tin in ihrem Kreuzberger Büro besuchen will, muss sich den Weg durch leere Bierflaschen vom Vorabend bahnen, vorbei am Kottbusser Tor. Wie auf Schnitzeljagd folgt man laminierten DIN-A4-Zetteln in einen Hinterhof. Im Treppenhaus laute Popmusik – das sind aber nur die Nachbarn. Ida Tin wartet in einem bunten Großraumbüro. Die 37-jährige Dänin ist die Gründerin von Clue, einer App, mit der Frauen ihren Zyklus dokumentieren können. Das gibt Aufschluss darüber, was im eigenen Körper passiert: Wie regelmäßig die Periode kommt, wann wahrscheinlich der Zeitpunkt des Eisprungs ist und was das bedeutet – also wann frau wahrscheinlich fruchtbar ist und wann eher nicht.
Das erklärt Ida Tin anschaulich mit ihren Händen: „Unsere weiblichen Hormone verändern sich im Laufe eines Monats am laufenden Band, gehen hoch und runter und spielen total verrückt“, sagt sie und malt eine Kurve in die Luft, während sie die Augen hinter der auffälligen blauen Brille verdreht. Weil der weibliche Körper anders funktioniert, bräuchten Frauen Technologien, die auf ihre Bedürfnisse spezialisiert sind. Die Zyklus-Dokumentation zur natürlichen Verhütung ohne hormonelle Präparate wie Pille oder Spirale ist nicht neu, Zykluscomputer wie „Persona“ oder „Clearblue“ gibt es bereits seit über 30 Jahren. Tin hat selbst jahrelang mit einem verhütet, in den sie jeden Morgen ihre Körpertemperatur eintrug. Die Hardware konnte ihre Daten jedoch nur drei Monate speichern, was Tin wenig nutzerfreundlich fand. Alle drei Monate musste sie ihre Daten manuell in eine Excel-Tabelle eintragen. „Irgendwann dachte ich, das ist total blöd. Was wäre, wenn man all diese Daten einfach auf seinem Handy hätte?“
Zweifelhafte Verhütungs-App
Eine ähnliche Zyklus-App, Natural Cycles, machte im Februar Schlagzeilen: Die App, die mit der Temperaturmethode fruchtbare Tage bestimmt, wurde vom Tüv Süd als Verhütungsmittel zertifiziert, angeblich so sicher wie die Pille. Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte, warnt, dieses Zertifikat sage nichts über die Zuverlässigkeit und Sicherheit der Methode aus. Das wesentliche Kriterium dafür, ob natürliche Verhütung eine sinnvolle Alternative ist, seien eher Lebensführung, regelmäßige Temperaturmessung und die Bereitschaft, an fruchtbaren Tagen auf Sex zu verzichten oder zusätzlich Kondome zu verwenden. Deshalb empfiehlt Tin ihre eigene App im Gegensatz zur Konkurrenz-App ausdrücklich nicht als Verhütungsmethode. „Natürliche Verhütung ist nie ganz sicher. Selbst, wenn man alle Faktoren mit einberechnet, können sich menschliche Fehler einschleichen oder andere Faktoren die Regelmäßigkeit des Zyklus verzerren.“
Femtech: Technologie für Frauen
Die Zyklus-Apps sind kein Nischenthema. Vielmehr gelten Tin und ihre Kolleginnen als Vorreiterinnen einer ganzen neuen Sparte. Femtech wird die genannt, zusammengesetzt aus dem englischen „female“ für Frau und „tech“ für Technologie. Femtech, das sind Technologien und Digitaldienste, die speziell auf Frauen abgestimmt sind. Trotz der gigantischen Zielgruppe von fünfzig Prozent der Menschheit konzentrieren sich in der Gesundheits- und Fitnessindustrie bisher hauptsächlich männliche Gründer auf die Gesundheit von Männern.
Wie der Branchendienst CB Insights analysierte, wurden seit 2014 1,1 Milliarden US-Dollar in 45 Femtech-Start-ups weltweit investiert. Da gibt es zum Beispiel das Start-up Ava, das ein Armband entwickelt hat, das den Monatszyklus aufzeichnet. Oder Nurx, das die Antibabypille per Post nach Hause schickt. Tin vermutet, dass in Technologien für Frauengesundheit ein noch größeres Potenzial liegt. Denn bereits heute würden sich rund 60 Prozent der Smartphone-Nutzer über ihr Handy um ihre Gesundheit kümmern. Auf Anfrage des Tagesspiegels sagte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), dass der Bundestag im Rahmen des 2018 in Kraft tretenden eHealth-Gesetzes aktuell sogar über eine Einbindung von mobilen Endgeräten in das Gesundheitssystem berate, damit Versicherte von zu Hause Zugriff auf ihre Krankenakte haben.
Der weibliche Körper als Produkt?
Was vermessen werden kann, kann auch verkauft werden. Auf die Frage, ob die Vermessung des weiblichen Körpers ihn zu einem Produkt macht, antwortet Tin ganz ruhig: „Nein, ich denke wir geben den Frauen damit viel mehr ihren Körper zurück.“ Bei „Clue“ gehe es vorrangig darum, Frauen eine nutzerfreundliche Möglichkeit an die Hand zu geben, mit der sie ihren Körper besser verstehen können, indem sie gewisse Muster erkennen. Das mache es auch einfacher, mit manchen Symptomen zu leben. „Wenn ich weiß, dass ich immer eine bestimmte Zahl an Tagen vor der Menstruation Kopfschmerzen habe, kann ich damit planen und werde nicht überrascht“, erklärt Tin.
Das gefällt auch der 27-jährigen Gründerin Ekaterina Karabasheva gut an „Clue“. Karabashevas eigene App, „Jourvie“, funktioniere mit demselben Ziel: Mehr Körpergefühl für seine Nutzer. Jourvie ist eine App, die Essgestörten in der Therapie helfen soll. Davon sind zwar nicht ausschließlich Frauen betroffen, aber doch zu 90 bis 95 Prozent. Mithilfe der App können Menschen, die an Magersucht, Bulimie oder Esssucht leiden, ein Tagesprotokoll über ihr Essverhalten und ihre Stimmung erstellen. Dies sei diskreter und einfacher, als alles handschriftlich aufzuschreiben, weiß Karabasheva aus eigener Erfahrung. Sie war früher selbst magersüchtig. Der größte Erfolg von Jourvie ist, dass bereits mit Partnern im Gesundheitssystem wie der AOK Nordost zusammenarbeitet wird. Bald soll die App offiziell in die Therapie von Essgestörten eingegliedert werden.
Datenschutz und Nebenwirkungen
Die Nebenwirkungen der Apps: Sie sammeln allerhand sensibler personenbezogener Daten. „Datenschutz und Sicherheitsanforderungen sind wichtige Aspekte in Bezug auf Gesundheits-Apps“, betont eine Sprecherin des BMG. Susanne Mauersberg, Gesundheitsexpertin beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv), sieht noch ein anderes Datenschutzproblem: „Viele Apps sammeln Daten, die Rückschlüsse auf die Persönlichkeit erlauben und damit auch Prognosen zu einem möglichen Konsumverhalten.“ Kurz gesagt: Wer weiß, wann Frauen dank hormoneller Schwankungen gut oder schlecht gelaunt sind, könne ihnen einen entsprechend angepassten Preis anbieten. Das Potenzial zur Manipulation sei durch Apps viel größer als die gewohnten Mechanismen der Werbebranche. Die EU-Kommission arbeitet bereits an einer [Selbstverpflichtung] (https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/news/code-conduct-privacy-mhealth-apps-has-been-finalised) für App-Hersteller, die die Sicherheit der Verbraucherdaten garantieren soll.
Tin und Karabasheva sind sich dieser Problematik bewusst, sagen sie. Die Daten ihrer Nutzerinnen seien geschützt. „Wir können die Nutzerdaten nicht einsehen und nicht einmal das Geschlecht der Nutzer erkennen“, sagt Karabasheva. Beide betonen, keine Daten an Dritte oder gar die großen Pharma-Konzerne zu verkaufen. Stattdessen setzen die Unternehmerinnen auf die Kooperation mit renommierten Universitäten.
Pharma-Konzerne hinken hinterher
Dennoch: Für die großen Pharma-Unternehmen bietet sich hier ein riesiges Potenzial, an Nutzerdaten zu gelangen. Damit ließen sich neue Produkte entwickeln oder bestehende anpassen. Eigene Soft- oder Hardware zur natürlichen Verhütung haben diese zwar noch nicht veröffentlicht. Bayer hat aber eine eigene App entwickelt, die an das bestehende Sortiment anknüpft: „Pillenalarm“ erinnert an die Einnahme der Pille. Als Zusatzfunktion gibt es hier ebenfalls die Möglichkeit, einen Zykluskalender zu führen.
Das Nutzerfeedback im Google-Play-Store ist jedoch ernüchternd: Die Erinnerungsfunktion funktioniere nicht korrekt, die Nutzeroberfläche sei umständlich und es gäbe zu wenig Funktionen. „Die haben geschlafen“, sagt Tin. „Vielleicht liegt das daran, dass an der Spitze dieser großen Unternehmen meist Männer sitzen“, vermutet sie. Ein Grund, der auch von Experten auf Konferenzen für weibliche Gründer immer wieder angeführt wird. Solange nur Männer in Männer investieren, wird sich das wohl nur langsam ändern. Tin und Co. arbeiten daran, diese Schere zu überwinden.