Vogelperspektive. Diese fünf Themen kamen seit Herbst 2013 am häufigsten im Parlament vor.

Welche Themen den Bundestag am meisten beschäftigen

Flüchtlinge, Datenschutz, Europa. Die Auswertung aller Bundestagsdokumente zeigt, welche Themen in den vergangenen vier Jahren am häufigsten behandelt wurden.
Angela Merkels Regierungserklärung vom 17. September 2016 im Original.

Februar 2016. Die Zahl der in Deutschland gestellten Asylanträge erreicht in diesem Monat mit 66.127 einen neuen Höhepunkt. Die Umfragewerte der AfD klettern erstmals weit über zehn Prozent, und Angela Merkel gibt eine Regierungserklärung vor dem Bundestag ab, in der sie den Umgang mit Flüchtlingen als „historische Bewährungsprobe” bezeichnet – und sich für eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei „zur Bekämpfung illegaler Einwanderung” ausspricht.

In jenem Februar erreichte das Thema auch im Bundestag seinen Höhepunkt. In keinem Monat der Legislaturperiode hat sich der gesamte Bundestag mit all seinen Ausschüssen und Abgeordneten häufiger damit beschäftigt. Zumindest, wenn man der Spur des Papiers folgt. Denn alles, was im Bundestag offiziell geschieht, wird von der Parlamentsdokumentation auch fein säuberlich archiviert. Diese Archivare der Demokratie weisen dabei jedem Dokument sorgfältig Themengebiete und Schlagwörter zu – egal ob Plenardebatte, Gesetzentwurf, Antrag, Anfrage oder Bericht. Und es werden in jeder Legislaturperiode mehr Dokumente, die produziert werden.

Um herauszufinden, was den Bundestag in den vergangenen vier Jahren am meisten beschäftigte, hat der Tagesspiegel gemeinsam mit dem Leipziger Fraunhofer IMW in einem gemeinsamen Forschungsprojekt alle archivierten Dokumente dieser Legislaturperiode analysiert und ihre Themen nach Schlagwörtern ausgezählt. So entsteht ein teils erwarteter, teils überraschender Blick auf die Arbeit unserer gewählten Vertreter.

Europa an erster Stelle

Deutlicher könnte es kaum sein: Nichts hat den Bundestag mehr beschäftigt als die Europäische Union. Brexit, Griechenland und Terrorismusbekämpfung. All diese Fragen sind unter den Top Ten der Themen. Und all diese Themen sind europäische. Auch Angela Merkel hielt ihre Rede im Februar anlässlich der tags darauf folgenden Sitzung des Europäischen Rats. Und auch die erste Gegenrede, die Sahra Wagenknecht im Anschluss an Merkel hält, beginnt mit Europa. In diesem Falle mit dem Vorwurf, die Regierung würde wahrhaft gesamteuropäische Lösungen der Flüchtlingsfrage verhindern. Beim anschließenden EU-Gipfel kann keine klare Einigung erzielt werden, man einigt sich auf einen gemeinsamen Gipfel mit der Türkei. Die Türkei findet sich übrigens auf Platz 14 der am meisten bearbeiteten Themen.

Doch auch abseits der öffentlichkeitswirksamen Themen beschäftigte sich der Bundestag durch die Bank am häufigsten mit der EU, vor allem mit der „innerstaatlichen Umsetzung von EU-Recht“. Das Parlament beschäftigte sich – zumindest auf dem Papier – sogar häufiger mit der Umsetzung von EU-Recht als mit “Programmen der Bundesregierung”, einem Sammelbegriff für die Berichte und Initiativen von der Regierung gegenüber dem Parlament.

Diese Themen kamen am häufigsten vor

Klicken Sie sich durch die Bundestagsthemen der vergangenen vier Jahre! Zu jedem Thema werden Ihnen zudem die Politiker angezeigt, die selbst am häufigsten zu dem jeweiligen Thema gearbeitet haben. Wenn Sie auf die Abgeordneten klicken, gelangen Sie zu einer Auswertung ihrer Arbeit seit Herbst 2013.

Flucht und Globalisierung

Gleich nach der EU kommen die Flüchtlinge. Während man sich zu Beginn vor allem über den Umgang mit ihnen stritt, wanderte das Thema danach in so ziemlich jeden Fachausschuss. Erst um Themen wie Notunterkünfte und Registrierungen, dann um Fragen wie Obergrenzen, Bildung, Integration und die rassistischen Anschläge gegen Unterkünfte. Und auch wenn die Bundesregierung in der Flüchtlingskrise meist im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, arbeitete der gesamte Bundestag stark zu dem Thema, wie Norbert Lammert vehement argumentierte. Und er hatte Recht: In den Ausschüssen, mit eigenen Gesetzesentwürfen und unzähligen Anfragen an die Bundesregierung wurde immer wieder versucht, Einfluss zu nehmen. Auch von unzähligen externen Experten und Verbänden (hier eine Liste der eingeladenen Personen).

Man beschäftigte sich aber genauso mit dem anderen Ende der Gleichung: den Menschenrechten im Ausland, Klimaschutz, Syrien, Waffenhandel und Handelsabkommen. In Zeiten der fortgeschrittenen Globalisierung lassen sich immer weniger Fragen nur auf nationalstaatlicher Ebene lösen. Wichtigster Orientierungspunkt dabei sind nach wie vor die USA. Mit keinem anderen Land hat sich der Bundestag mehr beschäftigt.

Auch die Anschläge hatten ihre Folgen im Bundestag. Gleich an sechster Stelle kommt „Terrorismusbekämpfung”. In den Legislaturperioden zuvor wurde noch mehr über die Bundeswehr geredet. Nach den Anschlägen der letzten Jahre diskutierte das Parlament mehr zu den Bedrohungen im Inland.

Im Neuland angekommen

Für Probleme mit Terror und Flüchtlingen deutete sich eine übereinstimmende Lösung an: Mehr Datenaustausch könnte helfen. „Datenaustausch” kam mit beiden Themen oft zusammen vor. Aber natürlich auch in Verbindung mit dem Thema “Geheimdienste”. Denn der NSA-Untersuchungsausschuss mit seinen teils grotesken Abläufen war so peinlich für die Regierung wie attraktiv für die Opposition.

Die Aufarbeitung der Spionage-Skandale und die Versuche, mit immer größeren Datenbanken und dem Austausch von Daten mit anderen Ländern Terror, Flucht oder die eigenen Bürger zu überwachen, zeigen aber auch eines: Der Bundestag ist im „Neuland“ angekommen und beschäftigt sich inzwischen stärker mit Datenschutz, Digitalisierung und dem Internet.

Globalisierung, Europa und Datenschutz. Wie sehr diese Themen immer noch am Anfang stehen, zeigt eine interessante kleine Anfrage von Inge Höger von der Linken. Sie wollte im März 2017 wissen, wo genau das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorhabe, eine neue Software zur Dialekterkennung zu testen. Somit könnten Beamte bei Asylbewerbern ohne Pass leichter feststellen, woher sie wirklich kommen.

In seiner Antwort erklärte Staatssekretär Ole Schröder, dass es derzeit nicht geplant sei, die Software „mit Echtdaten von Antragstellerinnen und Antragstellern” zu testen. Es sei erst einmal nur eine Machbarkeitsstudie sei, zusammen mit der Firma Nuance. Nuance, eine Firma mit Hauptsitz in Burlington, Massachusetts und mehreren Niederlassungen in Deutschland bietet auch Lösungen an, die gefährliche Personen an ihren Stimmen erkennt oder den Anruf beim Calllcenter einfacher macht. Die Firma ist wohl das beste Beispiel dafür, dass die Themen Europa, Datenschutz, USA und Informationsaustausch den Bundestag in der nächsten Legislaturperiode wohl noch mehr beschäftigen werden als in der zurückliegenden.

ERKUNDEN SIE DIE ARBEIT DER ABGEORDNETEN

Hier geht’s zum Politiker-Check, einer Analyse der Arbeit jedes einzelnen Aussschusses und Abgeordneten in den letzten vier Jahren:

Welche Bundestagsabgeordneten saßen in den relevanten Ausschüssen zu den jeweiligen Themen? Welche Experten und Lobbyisten saßen mit ihnen dort? Auf der interaktiven Webseite Tagesspiegel POLITIKER-CHECK gesammelt.

Über die Erhebung

Die Datenauswertung ist eines der Ergebnisse eines gemeinsamen Forschungsprojekts von Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie und dem Tagesspiegel, das im Rahmen der Ausschreibung “Wissenschaft und Datenjournalismus” von der VolkswagenStiftung gefördert wurde.

Dabei wurde das System der Parlamentsdokumentation übder deren »Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge (DIP)« für die aktuelle Wahlperiode vollständig abgefragt und ausgewertet. Diese enthalten immer Schlagworte, die ihnen von Mitarbeitern des Bundestags zugewiesen werden. Für unsere Auswertung haben wir rein funktionale Wörter wie “Programm der Bundesregierung”, “Umsetzung von EU-Richtlinien”, “Genehmigung” oder “Konferenz” aussortiert. So bleiben die groben Themen übrig, die sich besonder häufig in Bundestagsdokumenten finden. Diese Zahl ist nicht zwangsläufig repräsentativ dafür, was die Regierung am meisten behandelt hat und zu welchen Themen letzlich am meisten entschieden wurde. Es ist aber eine gute Richtlinie dafür, wie stark sich der Bundestag in seiner Gesamtheit mit Themen beschäftigt hat – gerade auch durch Anfragen und Gesetzesentwürfe der Opposition, Expertengutachten und Berichte. Mehr zu dem Projekt und dem Analysesystem dahinter finden Sie in diesem Info-Kapitel.

Die interaktive Visualisierung zu den häufigsten Themen wurde von Nikolas Zöller umgesetzt, der derzeit im Rahmen eines Google News Lab Fellowships für den Tagesspiegel arbeitet.