Wo die deutschen Lobbyisten sitzen
Gerhard Handkes Schreibtisch könnte kaum besser stehen. 500 Meter vom Bahnhof Friedrichstraße im fünften Stock hat er einen beeindruckenden Ausblick auf die Hauptstadt. „Wenn man ein Gebäude mit baut, dann sorgt man natürlich dafür, dass man einen guten Standort bekommt“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA). Es ist tatsächlich ein besonderes Gebäude, das die beiden Spitzenverbände BGA und Handelsverband Deutschland (HDE) hier gemeinsam mit drei kleineren Verbänden ab 1998 errichtet haben.
Das Haus der Verbände
Im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojekts haben der Tagesspiegel und das Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie (IMW) in Leipzig alle Interessenvertretungen, die in der 866-seitigen Lobbyliste des Bundestags verzeichnet sind, geografisch analysiert. Das Ergebnis: eine detaillierte Karte der Verbändelandschaft Deutschlands – und vor allem Berlins. Sortiert man die Karte nach Einzeladressen, gelangt man genau hierher, an den Weidendamm 1A, ins Verbändehaus für Handel, Dienstleistung, Tourismus. 33 Verbände sind für diese Adresse gemeldet. Nirgendwo in der Republik sind mehr Interessenverbände unter einem Dach versammelt.
Um die 50 Grundstücke hat sich Handke mit seinen Kollegen angeschaut, bis sie das Richtige fanden: „In zehn Minuten ist man im Wirtschaftsministerium, in fünf Minuten am Reichstag.“ Daneben gibt es Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, Einkaufsmöglichkeiten und gute Restaurants in der Nähe. „Wir haben ein Gebäude gebaut, das perfekt auf Verbände zugeschnitten ist“, sagt Handke. Im Erdgeschoss eine Druckerei, ein Konferenzzentrum und ein lichtdurchflutetes Atrium für Veranstaltungen. Eine gemeinsame Rezeption, eine Poststelle und ein zentrales Facility Management sparen zudem Kosten.
Es war nicht schwer, andere Verbände als Untermieter zu finden. Synergieeffekt ist das Stichwort. Die meisten Verbände des Hauses vertreten Interessen des Mittelstands und stimmen sich regelmäßig ab. „Das Kriegsentscheidende aber ist, dass wir durch die Ballung von Verbänden eine Adresse geschaffen haben“, sagt Handke. Vergangene Woche erst war Kanzlerin Angela Merkel da, gemeinsam mit SPD-Chef Sigmar Gabriel, dem Grünen Anton Hofreiter und FDP-Chef Christian Lindner, beim BGA-Unternehmertag. Keiner hat abgesagt, alles lief reibungslos. Das sind Handkes Erfolge. Schließlich repräsentiere der BGA mit seinen 71 Mitgliedsverbänden eine Branche mit 150 000 Firmen und zwei Millionen Beschäftigten. Da sage auch die erste Reihe der Politik gerne zu – zumal der Weg nicht weit ist. Das Gebäude platzt inzwischen aus allen Nähten. „Wir könnten locker noch drei Stockwerke draufsetzen.“
Lobbylandschaft Berlin
Die Karte zeigt alle derzeit beim Bundestag registrierten Interessensverbände. Wenn Sie auf die Punkte klicken, erhalten Sie die Beschreibung des Verbandes und die jeweiligen Kontaktdaten. Zoomen Sie hinein oder geben Sie den Namen Ihrer Stadt ein!
Von den 3089 Adressen der 2318 Vereinigungen in der Lobbyliste befinden sich mittlerweile 1183 in Berlin, 504 davon konzentrieren sich auf das Postleitzahlgebiet 10117, in dem sich auch Handkes Verbändehaus befindet. Neben Verbänden haben sich hier weitere Lobbyisten niedergelassen. An der Adresse des Deutschen Zigarettenverbands, Unter den Linden 42, findet man etwa den Bundesverband deutscher Tabakpflanzer sowie Reemtsma und British American Tobacco Germany. Im gleichen Haus befindet sich das Café Einstein mit seinen Hinterzimmern.
Mit Sicherheit gute Adressen
Das Sammelprinzip funktioniert auch bei der Rüstung. Die Friedrichstraße 60, ausgestattet mit „intelligenter Sicherheitstechnik“, beheimatet nicht nur den Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, in dem derzeit 220 Unternehmen organisiert sind, sondern auch Thyssenkrupp, den Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie und die Lobbyagentur Erste Lesung, die mit dem Slogan „Your Bridge to Politics“ um Mandanten wirbt.
In noch unmittelbarerer Nähe des Bundestags, Am Pariser Platz 6 und 6A, direkt neben dem Brandenburger Tor, haben sich der Panzerhersteller Krauss-Maffei Wegmann, der englische Rüstungskonzern Quinetiq, die Diehl-Stiftung sowie der Hersteller von Fregatten, Mega-Yachten, Forschungs- und Polizeischiffen, German Naval Yards, niedergelassen. „Die kurzen Wege zur Politik, den für uns wichtigen Landesvertretungen und zu anderen Verbänden machen die Arbeit tatsächlich wesentlich einfacher“, sagt Heiko Landahl- Gette, in Personalunion Pressesprecher und Interessenvertreter für German Naval Yards. Die Nähe zu Bundestag und Botschaften garantiere auch ein höheres Aufkommen an Sicherheitskräften, so Landahl-Gette. Ein Vorteil für eine Industrie, die mit Protestaktionen rechnen muss.
Die neue Offenheit
Neben diesen klassischen Lobbyisten haben in 10117 in den vergangenen Jahren neue Interessenvertreter Repräsentanzen errichtet, allen voran Microsoft, Google, die Telekom und Telefónica. Sie verfolgen eine Art der Interessenvertretung, die sich bemüht, Offenheit und Transparenz auszustrahlen. Öffentliche Veranstaltungen versammeln Startups, Vordenker und die interessierte Öffentlichkeit. Weitere Veranstaltungen und Spezialblogs richten sich an die Politszene. Valentina Daiber, Corporate Affairs Director von Telefónica Deutschland, erklärt, warum das sinnvoll ist: „Politische Debatten haben durch die digitale Transformation an Intensität gewonnen, mehr Stakeholder beteiligen sich, wodurch sie transparenter geworden sind.“ Deswegen glaubt ihr Konzern daran, dass eine Mischung von digitalen Medien wie Blogs und Social Media, Veranstaltungen und klassischen persönlichen Gesprächen mit Entscheidungsträgern erfolgversprechender sei. Auch weil durch den erhöhten Input schneller gesellschaftliche Debatten und Trends aufgreifbar sind.
Wenn die räumliche Nähe zu den Entscheidern so vorteilhaft ist, warum sind nicht längst alle Verbände in Berlin? Wilfried Joswig vom Verband für Sicherheitstechnik in Hamburg sagt: „Wenn man sich kennt, dann geht das oft auch telefonisch.“ Zumal man sowieso in ganz Deutschland unterwegs und Mitglied bei der Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft in Berlin ist. Andere sind schlicht am Sitz ihrer Vorstände angesiedelt. Und dann gibt es da noch Bonn, das trotz seiner immer weiter abnehmenden Bedeutung in der Bundespolitik einen entscheidenden Vorteil hat: die Nähe zu Brüssel. Nicole Espey vom Bundesverband der Deutschen Sportartikel-Industrie sagt: „Für uns und unsere großen Mitglieder wie Adidas, Puma oder Asics ist europäisches Lobbying weit wichtiger als Lobbyarbeit in Berlin.“ Freihandels- und Zollregelungen oder Fragen der Produktsicherheit, beispielsweise Grenzwerte von chemischen Inhaltsstoffen, werden hauptsächlich in Brüssel ausgehandelt. Und dort ist man von Bonn aus innerhalb von zwei bis drei Stunden.
Der Briefkastenlobbyist
Eine andere Möglichkeit für Verbände, sich trotz geografischen Abstands in Berlin vertreten zu lassen, verkörpert beispielhaft Peter Spary, ehemaliger Hauptgeschäftsführer der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung und von 1990 bis 2001 Hauptgeschäftsführer im eingangs besuchten BGA. Zu ihm gelangt man, wenn man alle Verbandsadressen nach ihren Telefonnummern sortiert. Nicht weniger als zwölf Verbände haben die gleiche Telefonnummer. Und die führt zum Berliner Büro des 76-jährigen Peter Spary in der Wilhelmstraße. In Personalunion vertritt der, wie er sich selber nennt, „Lobbyist aus Leidenschaft“ derzeit nach eigenen Angaben sechs Verbände auf Honorarbasis, beispielsweise zwei Brandschutzverbände oder den Verband der Deutschen Daunen- & Federnindustrie. Daneben ist er bei 21 Verbänden ehrenamtlich im Vorstand tätig. Bei der Deutsch-Jordanischen Gesellschaft zum Beispiel, der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft oder dem Verein zur Förderung der Wettbewerbswirtschaft. Immer wieder fragen ihn Verbände, ob er „nicht was für sie in Berlin machen kann“. Wenn der Bundestag tagt, ist Spary in Berlin: „Wer Tore schießen will, muss auf dem Spielfeld sein“, sagt er.
Dieser Artikel ist in gedruckter Fassung im Tagesspiegel-Politikjournal Agenda erschienen. Die Karte basiert auf der Verbändeliste des Deutschen Bundestages, die automatisch analysiert wird. Die Arbeit daran ist Teil eines gemeinsamen Forschungsprojekts von Tagesspiegel und dem Fraunhofer IMW. Das Projekt wurde im Rahmen der Förderung „Wissenschaft und Datenjournalismus“ der VolkswagenStiftung gefördert.
Zur Analyse der Lobbyliste des Bundestages wurde ein Scraper entwickelt, der als Open Source Software auf Github zur Verfügung steht. Er basiert zu Teilen auf der früheren Version eines Scrapers von Sebastian Vollnhals.
Die Daten der Verbändeliste stehen als offene Daten unter der Bedingung der Namensnennung “Fraunhofer IMW/Tagesspiegel (CC BY 3.0 DE)” zur Verfügung.