Die Polizei in Chicago erstellt eine rote Liste potenzieller Täter. Die Folgen zeigt der Dokumentarfilm „Pre-Crime“, der gerade im Kino gestartet ist. Geht Berlin in dieselbe Richtung? Foto: Promo

Berliner Polizei sucht Verbrecher per Computervorhersage

Seit einem Jahr werden in Berlin Verbrechen per Software vorhergesagt. Die Polizei lobt die Algorithmen, Experten zweifeln an deren Nutzen.

Jeden Morgen lässt Kriminalhauptkommissar Michael Cornelius im Analysezentrum des Landeskriminalamts am Platz der Luftbrücke seinen Computer ausrechnen, wo sich die Verbrecherjagd in der Hauptstadt an diesem Tag besonders lohnt. Als Ergebnis erhält er eine aktuelle Einbruchprognose: Auf der Berlin-Karte sind drei Gebiete im Prenzlauer Berg, Wedding und Steglitz mit gelben und roten Quadraten markiert. Für die hervorgehobenen Häuserblocks kalkulieren die Algorithmen heute eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich Einbrecherbanden ans Werk machen. „Die Informationen schicken wir an die zuständigen Polizeidirektionen“, sagt Cornelius. Vor Ort wird dann entschieden, ob verstärkt Streifen in die gefährdeten Gebiete auf Patrouille geschickt werden, teilweise werden auch die Anwohner mit Flyern gewarnt.

Vision und Wirklichkeit verschmelzen

Es ist der erste Schritt, mit dem eine Vision des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick in die Realität überführt wird: Polizisten sollen Verbrechen verhindern, bevor sie begangen werden. Predictive Policing nennt sich die Technologie, die in immer mehr Bundesländern eingesetzt wird. Welche Probleme es allerdings mit sich bringt, wenn sich Fehler in die Verbrechensprognosen einschleichen, zeigte schon „Minority Report“, Steven Spielbergs Verfilmung des Dick-Romans mit Tom Cruise in der Hauptrolle. Auch im echten Leben klopfen in den USA bereits Polizeibeamte an die Türen von Menschen, die nur durch die Kalkulation eines Algorithmus in Verdacht geraten sind. So nutzt beispielsweise die Polizei in Chicago ein Scoring-System, das eine rote Liste potenzieller Täter erstellt. Wie weit Vision und Wirklichkeit bereits verschmelzen, zeigt auch der Dokumentarfilm Pre-Crime, der gerade im Kino gestartet ist.

„Den werde ich mir auch mal anschauen“, sagt Kommissar Cornelius. „Aber von Minority Report sind wir noch ganz weit weg.“ In der Tat wird die Berliner Software nicht dazu genutzt, potenzielle individuelle Straftäter zu identifizieren. Stattdessen folgt der Ansatz der sogenannten Near-Repeat-Theorie. Die besagt, dass gerade professionelle Täter nach einem erfolgreichen Einbruch oft mehrfach in der Nähe zuschlagen.

Wie die Software Einbrüche prognostiziert

„Wir lassen den Algorithmus nach entsprechenden Mustern suchen“, sagt der Kriminalist. Dazu hat das LKA die Stadt in mehr als 9000 Quadrate eingeteilt, die jeweils 400 mal 400 Meter umfassen. Fast die Hälfte davon können die Beamten ignorieren, da es sich um Parks, Gewässer oder andere unbebaute Flächen handelt. Dieses Raster wird dann mit einer Datenbank verknüpft, in der Informationen über alle Einbrüche verzeichnet werden. Wenn es in einem Quadranten 21 Tage lang keinen Einbruch gab und dann in drei Tagen zwei Fälle, liege die Wahrscheinlichkeit bei 33 bis 37 Prozent, dass noch ein dritter Diebstahl folge, erklärt der Ermittler. In diese Prognose beziehen Cornelius und seine Kollegen jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren ein.

In der Regel gibt es drei Tätertypen: Eine große Gruppe machen ehemalige Freunde und Bekannte aus. Ein klassischer Fall: „Der Ex zieht aus und will den Fernseher mitnehmen, aber die bisherige Freundin hat schon ein neues Schloss eingebaut.“ In die zweite Gruppe fallen Beschaffungskriminalität und Gelegenheitstäter, die beispielsweise ein offen stehendes Fenster nutzen. Für die Computeranalyse ist jedoch nur der dritte Typus interessant: professionelle Serientäter. Denn nur bei denen zeigen sich Muster, die auch die Software erkennen kann.

Dazu werden alle Tatmerkmale in der Datenbank mit einem Punktesystem gewichtet. Haben die Einbrecher eine Scheibe eingeworfen, gibt es wenig Punkte, denn das verursacht Lärm und ist eher unprofessionell. Dagegen zeigt das sogenannte „Riegel ziehen“ fast immer, dass Profis am Werk waren: Sie öffnen dabei die Flügeltüren von Altbauten mit einem Schraubenzieher. Die Werte fließen in die Berechnung mit ein und führen letztlich zu den Prognosen weiterer möglicher Taten.

Experten zweifeln an Predictive Policing

Doch was bringt die Verbrechensvorhersage letztlich? „Wir haben seit zwölf Monaten niedrigere Fallzahlen“, sagt Cornelius. „Im aktuellen Jahr sind die Rückgänge zweistellig.“ Er glaubt, dass dazu auch die Algorithmen beigetragen haben.

Verschiedene Experten sind da jedoch skeptisch. „Man kann nicht genau beziffern, ob und in welchem Ausmaß die Software Kriminalitätszahlen senken kann“, sagt Dominik Gerstner, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Strafrecht in Freiburg. „Die Effekte von Predictive Policing sind aber eher gering“, sagt Gerstner. Das zeigte sich auch in der bislang größten wissenschaftlichen Untersuchung zum Thema in Deutschland, die Gerstner kürzlich veröffentlicht hat. Dabei analysierte er ein Pilotprojekt der Polizei in Baden-Württemberg, die ebenfalls die neue Technologie eingesetzt hat. Der wichtigste Schluss der Studie: „Die kriminalitätsmindernden Effekte von Predictive Policing im Pilotprojekt liegen nur in einem moderaten Bereich.“ Zwar sank die Zahl der Einbrüche in einigen Städten wie Stuttgart, in Karlsruhe nahm sie dagegen sogar zu.

82 mal warnt die Software in Polizeidirektion 5

Ähnlich uneindeutig sind die Zahlen für das erste Halbjahr dieses Jahres in Berlin. Im Gebiet der Polizeidirektion 5, zu dem Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln gehören, warnte die Software 82 Mal. Das ist fast doppelt so viel wie in den nächstfolgenden Direktionen. Die Zahl der Einbrüche sank in der Direktion 3 von 1049 auf 711. Das klingt erst mal gut. Allerdings gingen die Einbrüche auch in der Direktion 6 (Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg-Hohenschönhausen) von 1014 auf 724 zurück. Allerdings hatte hier die Software nur neun Mal Alarm geschlagen.

Wer die Wirksamkeit der Technologie messen möchte, steckt aber in einem Dilemma. „Wenn entgegen der Prognose kein Einbruch stattfindet, weiß man nicht, ob die Software falsch lag oder die Polizei die Einbrecher abgeschreckt hat“, sagt Simon Egbert, Kriminalforscher an der Universität Hamburg. Trotzdem glaubt er, dass die Polizei künftig verstärkt solche Technologien nutzen wird.

Immer mehr Bundesländer setzen auf Predictive Policing

Neben Berlin und Baden-Württemberg nutzt oder testet auch die Polizei in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Baden-Württemberg Predictive Policing. Andere Länder prüfen derzeit einen Einsatz, darunter auch Brandenburg. „Das Polizeipräsidium des Landes Brandenburg erarbeitet gegenwärtig eine erweiterte Machbarkeitsstudie unter der Mitwirkung von Microsoft Deutschland“, sagte ein Sprecher des Innenministeriums. In Nordrhein-Westfalen und Bayern wird auch geprüft, ob die Technologie auf andere Straftaten wie Kfz-Diebstahl ausgeweitet wird. Autoklau ist naheliegend, da auch hier meist Profis am Werk sind. Und die bevorzugen oft bestimmte Fahrzeugtypen. Könnte man über die Daten der Zulassungsstelle nicht auch analysieren, wo besonders viel gefährdete Autos stehen? „Das sind personenbezogene Daten, die wir in Berlin nicht nutzen“, sagt Cornelius.

Minority-Report-Szenario könnte auch in Deutschland real werden

Wie lange das so bleibt, ist jedoch die Frage. Auch die Debatte um mehr Videokameras und der Test von Gesichtserkennungssoftware am Südkreuz zeigt, dass viele Leute für das Gefühl von mehr Sicherheit auch immer mehr Überwachungstechnologie akzeptieren. „Ich kann mir vorstellen, dass auch in Deutschland die Analyse personenbezogener Daten auf den Plan rückt“, sagt Forscher Egbert. Zunächst im Bereich Terrorismus, doch wenn eine Technologie erst mal implementiert ist, wird die Nutzung tendenziell eher ausgeweitet. So könnte auch hierzulande das Minority-Report-Szenario schneller real werden, als Science-Fiction-Visionär Dick glaubte. Die Geschichte spielt erst im Jahr 2054.