Berliner Hausnummern: Zickzack verdrängt Hufeisen
Berlin hat viele Gesichter, aber dieses hier ist neu: Ein wild gemusterter Teppich aus roten Doppellinien und blauen Zackelnähten. Rot bedeutet: Hufeisen-Nummerierung, also die Hausnummern beginnen innenstadtseitig mit der Eins und wandern fortlaufend bis irgendwohin, um auf der anderen Straßenseite wieder zurückzukehren – bis zur höchsten Nummer, die dann der Eins gegenüberliegt. Das ist die preußische Variante, die aus heutiger Sicht wenig taugt. Zeitgemäß ist Zickzack, also Blau: die geraden Nummern auf der einen Straßenseite, die ungeraden auf der anderen.
Vor allem Wilmersdorf, Charlottenburg, Mitte und Kreuzberg sind überwiegend rot auf diesem Stadtplan: Historisch gewachsene Gebiete, deren Struktur sich in den vergangenen 100 Jahren nicht mehr grundlegend verändert hat – einschließlich der vor ebenso langer Zeit vergebenen Hausnummern. Das preußische Hufeisen-System hat den Nachteil, dass eine einmal durchnummerierte Straße nicht mehr verlängert werden kann. Ein starkes Argument für die auch bundesweit längst etablierte Zickzack-Variante.
Die Stadt wimmelt von Ausnahmen
Erfunden wurden beide in Frankreich im Gefolge der Revolution. Paris war schon damals zu unübersichtlich geworden für das zuvor übliche System, die Häuser der Stadt einfach durchzunummerieren oder anhand von Familienwappen, Gildensymbolen oder Namen zu sortieren. Ein Graus für die zivile Staatsmacht – vom Polizisten über den Postboten bis zum Steuereintreiber.
Das Städtchen Berlin folgte 1799 bis 1805. Als man hier mit den Hufeisennummern durch war, stellten die Franzosen bereits auf Zickzack um. Manche Berliner Vororte – Zehlendorf beispielsweise – wählten ebenfalls diese Variante, die nach der Schaffung von Groß-Berlin 1920 als die einzig praktikable übrig blieb. 1927 wurde sie offiziell zum Standard.
Also sind die blau eingezeichneten Straßen die relativ neuen? Das stimmt in vielen Fällen, aber längst nicht in allen. Die Stadt wimmelt von Ausnahmen. So fällt im roten Wilmersdorf die blaue Lietzenburger Straße auf, die ihren Namen im westlichen Teil schon seit 1890 trägt, aber ostwärts erst 1965 bis zur Urania verlängert wurde – und bei dieser Gelegenheit offenbar auch komplett umnummeriert.
Spannend ist es auch da, wo man es kaum vermutet
Eine besonders prominente Spezialität ist der Kurfürstendamm: ein mehr als drei Kilometer langes Hufeisen, das mit der Nummer 11 beginnt. Die gehörte bis zum Abriss dem Schimmelpfeng-Haus und ist jetzt die Adresse des Hochhausprojekts Upper West. Die niedrigsten (und auch die höchsten) Hausnummern hat der Ku’damm schon 1925 eingebüßt, als sein nordöstliches, durch die Kaiser- Wilhelm-Gedächtnis-Kirche vom übrigen Boulevard klar abgegrenztes Ende in Budapester Straße umbenannt wurde. Die ist bereits im Zickzack nummeriert. Unter den Linden übrigens auch, was bei diesem alten Boulevard verwundert, sich aber mit dem Germania-Ehrgeiz der Nazis erklären lässt: Zur Welthauptstadt sollten auch neue Nummern gehören – nur kam es dazu kaum irgendwo.
Mit dem Erkenntnisgewinn wächst die Neugier, und es genauer wissen will, kann online historische Stadtpläne über den aktuellen legen: Mit dem Portal „histomapberlin.de“ des Landesarchivs.
Spannend ist es teilweise auch da, wo man es kaum vermutet, etwa am Seekorso in Kladow: Zu dessen altem Teil westlich des Ritterfelddamms kommt die ostwärtige Verlängerung durch eine neue Eigenheimsiedlung – mit der Konsequenz, dass an dem alten Hufeisen jetzt ein Zickzack-Schwanz hängt. Womit sich eine Bemerkung des Schriftstellers und Berlin-Besuchers Mark Twain von 1892 einmal mehr als wahr erweist: „Bei den Hausnummern herrscht ein Chaos wie vor der Erschaffung der Welt. (…) Zuerst denkt man, dies sei die Tat eines Blödsinnigen; allein, so mannigfaltige Arten, Verwirrung und Unheil anzurichten, wäre ein Blödsinniger nicht imstande, sich auszudenken.“
Bezirksämter sind für Nummerierung zuständig
Vielleicht ist Twain dasselbe passiert wie anderen Berlin-Besuchern, die auf der Suche nach einer Hausnummer ein komplettes Hufeisen auf und ab gewandert sind, ohne zwischendurch einen Blick auf die andere Straßenseite zu werfen. Da können an Magistralen wie der Friedrichstraße, der Schöneberger Hauptstraße oder eben am Ku’damm leicht fünf Kilometer zusammenkommen.
Für die Nummerierung neuer Straßen und Grundstücke sind die Bezirksämter zuständig. Die müssen dann durchaus mal abschätzen, wie viele Hausnummern eines fernen Tages auf eine heutige Brache passen werden. Es gibt Erfahrungswerte, aber keine Gewissheiten. Die wahre Größe des Themas zeigt ein Buch aus der Feder von Bernhard Wittstock, Liegenschaftsexperte aus Mitte – 2827 Seiten in fünf Bänden, veröffentlicht im Selbstverlag, 149 Euro. Es gibt noch Exemplare.