Eine Box voll Arbeit. An ihren grellen Lieferrucksäcken erkennt man die Mitarbeiter von Foodora und Deliveroo schon von weitem. Foto: Mona Lisa Fiedler

Wer geliefert ist: Arbeiter bei Foodora und Amazon kämpfen für bessere Arbeit

In der Gig Economy entsteht eine neue Klasse prekärer Arbeiter. Die ersten beginnen nun, sich zu wehren. Und Gewerkschaften betreten unbekanntes Gebiet.

Georgia Palmer bekommt ihre Aufträge von einer App. Die 24-jährige Philosophiestudentin aus Berlin arbeitet als Minijobberin für den Essenslieferanten Foodora. Wenn ihre Schicht beginnt, steht sie mit pinker Jacke und Fahrrad an der Straße, schnallt die Transportbox auf den Rücken und nimmt ihr Smartphone in die Hand. Sie loggt sich ein und wartet auf ein Piepsen. Dann rast sie zu dem vorgegebenen Restaurant, nimmt Essen entgegen und bekommt – wieder per Handy – die Adresse zum Ausliefern. Der Kunde weiß da schon, dass sie zu ihm unterwegs ist und wie lange sie noch braucht. Denn Foodora zeichnet alles auf. Doch trotz Dauerüberwachung hat das Startup seine Fahrer und ihre Wut unterschätzt. Und damit womöglich den ersten großen Klassenkampf der Gig-Economy ausgelöst.

Die Sache mit den Vornamen war dabei eigentlich nur ein Detail. Aber für Georgia Palmer steht es stellvertretend dafür, wie wenig Rücksicht auf die Fahrer genommen wird. Eines Tages fingen die Kunden an, sie mit „Hi Georgia“ zu begrüßen, wenn sie ihnen das Essen in die Hand drückte. Sie fand das unheimlich, denn sie trug kein Namensschild. Später erfuhr sie, dass Foodora die Vornamen der Fahrer für die Kunden freigeschaltet hatte. „Nur uns hat das vorher eben keiner gesagt“, sagt sie.

Plötzlich waren sie viele

Mut auf Rädern. Georgia Palmer kämpft für bessere Arbeitsbedingungen. Foto: Mona Lisa Fiedler

Den Fahrern von Foodora und dem Konkurrenten Deliveroo stinkt so einiges: dass sie Fahrrad und Handy selbst stellen und die Räder in ihrer Freizeit reparieren müssen, dass ein intransparenter Algorithmus die Schichten verteilt und dass Bedingungen nach Belieben verändert werden. Also begannen Fahrer in Berlin, sich auf der Straße und in Chatgruppen auszutauschen, abends in der Kneipe zu diskutieren und schließlich, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Da war plötzlich ein „wir“.

Dieses „wir“ ist für Foodora und Deliveroo-Fahrer noch viel größer als die Straßen Berlins: In London, Turin und Bordeaux streikten in den vergangenen Monaten Deliveroo-Fahrer gegen Lohndrückereien. In Wien gibt es den ersten Foodora-Betriebsrat. Und überall in deutschen Städten gibt es Versuche, den Berliner Arbeitskämpfern nachzueifern. „Sie bekommen ihre Aufträge vielleicht von einer App“, sagt Kurt Vandaele, Forscher am Europäischen Gewerkschaftsinstitut ETUI, „aber sie sind auch im wirklichen Leben auf einem lokalen Arbeitsmarkt in Großstädten verbunden.“ Die Fahrer in ihren pinken und mintgrünen Outfits fallen im Stadtbild auf, häufig warten sie an denselben Plätzen auf Aufträge. Sie begegnen sich und merken: Wir sind viele.

»Vielen macht der Job Spaß«

Bezahlt werden die Fahrer auf Mindestlohnbasis. Die meisten Fahrer sind bei Foodora auf Mini- oder Midi-Job-Basis angestellt. Deliveroo beschäftigt zudem viele Fahrer als Selbstständige. Auf die lässt sich noch ein bisschen einfacher Druck ausüben, gerade in England versucht das Unternehmen, von Stunden-Bezahlung auf eine reine Prämie pro Auslieferung umzustellen. Aber einfach ist der Job bei keinem der Konkurrenten: Wer als Angestellter bei der Schichtvergabe trotz garantierter Mindeststundenzahl leer ausgeht – was nach Angaben von Fahrern in diesem Sommer häufig vorkam, von den Unternehmen aber nicht bestätigt wird – dem bleibt nichts anderes übrig, als permanent aufs Handy zu schauen, ob spontan etwas frei wird. Verfügbarkeit: ständig. Frustlevel: sehr hoch.

Für die großen Gewerkschaften schien es bisher nicht besonders attraktiv, sich für die Essenslieferanten einzusetzen: Viele der Fahrer sind wie Georgia Studenten, die sich etwas dazu verdienen, vor allem solche, die aus dem Ausland nach Berlin gezogen sind. „Da wollen sich auch viele gar nicht dauerhaft gewerkschaftlich engagieren“, sagt Thomas Voss, bei Verdi zuständig für Online-Handel und Versand. „Dieser Protest ist eher aktionistisch.“ Dem widerspricht Clemens Melzer, Berliner Pressesekretär der anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaft FAU (Freie Arbeiterinnen und Arbeiter Union), die die Fahrer organisiert: „Es ist ein Job, der Spaß macht, mit dem sich die Fahrer identifizieren. Viele würden gerne dabeibleiben, wenn die Konditionen besser wären.“ Er sagt, durch die Proteste gewinne die FAU jeden Monat eine zweistellige Zahl an Mitgliedern dazu – nicht nur in Berlin, sondern auch in Hannover, Hamburg, Karlsruhe, Mannheim, Dresden und Duisburg. Wie viele Fahrer sie genau vertreten, sagt er nicht.

Das Geschäftsmodell schreit quasi nach Lohndumping

Malen für mehr Bezahlung. Fahrradkuriere bei der Vorbereitung einer Demonstration. Foto: Mona Lisa Fiedler

Ein Dienstagabend im Juli. Vor einem Ladenlokal in Wedding steht eine Handvoll Leute, raucht und diskutiert. Jede zweite Woche trifft sich hier im Büro der Berliner FAU die Orga-Gruppe. Zehn Leute sind gekommen, es wird Englisch gesprochen. An der Wand ein Plakat mit der Aufschrift: kämpferisch, anarchistisch, solidarisch. Das Gespräch ist gut organisiert und straff geführt, eine Agenda, ein Moderator, konzentriertes strategisches Planen. Die meisten hier sind Fahrer oder arbeiten in den Büros der Lieferanten. Georgia ist auch dabei. Sie feiern ihren ersten Erfolg. Kurz vor dem Börsengang der Berliner Muttergesellschaft Delivery Hero zeigt sich Foodora bereit, offiziell über die Forderungen der Fahrer zu verhandeln. Der britische Wettbewerber Deliveroo dagegen ignoriert die Proteste weiterhin. Ihre Leitung sieht ihn als nicht repräsentativ für ihre Fahrer. „Wir werden den Druck erhöhen“, kündigt Clemens Melzer an. Er ist zuversichtlich, die Proteste breiten sich aus. Spätestens Anfang 2018 wollen sie in Berlin eine erste internationale Lieferdienste-Konferenz organisieren.

Die Situation der Fahrer ist in Ländern mit besonders niedrigem Arbeitsschutz wie Italien oder Großbritannien noch prekärer. Das ist kein Zufall, denn das Geschäftsmodell der Dienste schreit quasi nach Lohndumping: über ihre Plattformen vermitteln sie Essen von Restaurants, die keinen Lieferservice haben. Ein solches Geschäft ist deutlich risikoreicher als die reine Vermittlung zwischen Kunden und lieferndem Restaurant, wie sie andere Plattformen anbieten. Foodora verlangt nach eigenen Angaben 30 Prozent des Preises – Deliveroo wollte sich auf Anfragen von Investigate Europe nicht äußern, Restaurantbesitzer allerdings sagen, der Preis sei bei beiden Diensten derselbe.

Für Stoßzeiten müssen die Dienste sehr viele Fahrer bereithalten, die sie zu anderen Zeiten dann nicht brauchen. Je niedriger die Lohnkosten, umso besser. Vor allem, wenn die Fahrer warten. Beide Startups werden mit hohen Millionenbeträgen von internationalen Investoren unterstützt. Beim Börsengang von Delivery Hero wurde offengelegt, dass Foodora (noch) Millionenverluste macht. Deliveroo wollte sich nicht äußern, ob es bei ihnen ähnlich aussieht.

Digitaler Taylorismus

Fakt ist: Beide Unternehmen expandieren trotzdem stark. Foodora ist nach eigenen Angaben in mehr als zehn Ländern und 65 Städten weltweit vertreten, Deliveroo in zwölf Ländern und 160 Städten. Nun folgt ihnen auch der Protest an die neuen Standorte. Die Medienaufmerksamkeit dafür ist groß. Zu einer Fahrraddemo in Berlin im Mai kamen fast so viele Journalisten wie Fahrer. Die Protagonisten sind jung, die Aktionen spektakulär: Ende Juni kippten sie eine Ladung Fahrradschrott vor das Deliveroo-Büro, um dagegen zu protestieren, dass der Arbeitgeber nicht für Schäden einsteht. Inzwischen hat Deliveroo eine Verschleißpauschale eingeführt. Die Fahrer wissen, in der Masse haben sie Macht. Gewerkschaftsforscher Kurt Vandaele sagt: „Obwohl die Fahrer in ihrer Arbeit recht leicht zu ersetzen sind – man muss ja nicht besonders ausgebildet sein, um Rad zu fahren – haben sie einige Verhandlungsmacht. Sie werden sich ihrer strategischen Position bewusst und entdecken den Streik wieder: ohne Essensauslieferung machen ihre Chefs keine Gewinne.“

Dass die Konzerne die Bestellungen und Auslieferungen in viele kleine Arbeitsschritte unterteilen und damit Arbeiter ersetzbarer machen, ist laut Experten so gewollt – der Fachbegriff hierfür „Digitaler Taylorismus“. Das ist nicht nur bei den Essenslieferanten verbreitet. „Die Digitale Revolution erinnert frappierend an die Industrielle Revolution und die Stück-Arbeit im 19. Jahrhundert“, sagt Vandaele. Menschen wurden damals für das Hemd bezahlt, das sie nähten. Wie lange sie dafür brauchten war egal. „Damals wurden die ersten Streikfonds, Gewerkschaften und Mindestlohngesetze geschaffen. Und genau dort stehen wir in manchen Sektoren nun wieder“, sagt er. Als weitere Beispiele nennt er den Hotel-Sektor mit sogenannten On-Call-Verträgen, die null Sicherheit bei maximaler Verfügbarkeit bedeuten. Oder das Zusammenstellen von Waren in den Logistikzentren des Großkonzerns Amazon.

»Wir lassen uns nicht wie Maschinenteile behandeln«

Stückarbeit. Mitarbeiter im Amazon-Lager Brieselang bei Berlin. Foto: Bernd Settnik/dpa

Der Fall Amazon zeigt besonders gut, wie auch Gewerkschaften inzwischen zur grenzübergreifenden Vernetzung quasi gezwungen sind. In Deutschland betreibt Amazon neun Logistikzentren. Immer wieder wurden diese von Mitarbeitern in den vergangenen Jahren bestreikt. Lohnerhöhungen gab es zwar – bisher aber weigert sich der Konzern, Gewerkschaften als Vertretung ihrer Arbeiter zu akzeptieren und über Tarifverträge zu verhandeln. Man rede direkt mit den Betriebsräten, heißt es. Trotzdem sind laut Verdi inzwischen bis zu einem Drittel der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert. Seit 2014 beliefert Amazon den deutschen Markt nun auch aus drei Logistikzentren in den polnischen Städten Poznan und Breslau. Dank Sonderwirtschaftszone verdienen die Arbeiter dort nicht einmal fünf Euro die Stunde, arbeiten längere Schichten und sonntags.

„Bei Amazon zu arbeiten, ist sehr anstrengend“, sagt Malgorzata Mróz, die Vorsitzende der Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza. „Wir kämpfen darum, wie Menschen behandelt zu werden und nicht wie Maschinenteile.“ Die Amazon-Lager in Deutschland und Polen seien eng miteinander verwoben. Die Arbeiter müssten solidarisch zueinander stehen, findet sie. Und auch die deutschen Kollegen haben verstanden: Wenn in Deutschland gestreikt wird, ist es für Amazon leicht, Aufträge über Polen abzuwickeln – der Kunde merkt davon im Zweifelsfall nichts. Die Verhandlungsposition der Arbeiter ist damit massiv geschwächt. „Also kämpfen wir zusammen“, sagt auch Thomas Voss von Verdi.

Die Krankenquote liegt über dem Branchenschnitt

„Wir haben unterschiedliche Löhne und Standards, aber was Kollegen in ganz Europa vereint, ist die Sorge um unsere Gesundheit“, sagt Thomas Rigol, der bei Amazon in Leipzig arbeitet und für Verdi im Betriebsrat sitzt. Wenn Arbeiter beispielsweise über Wochen und Monate LKWs beladen müssten oder Pakete am Band ausschließlich mit der rechten Hand öffneten, dann sei das eine immense einseitige Belastung. „Wir wollen gemeinsam erreichen, dass die Leute in den Abteilungen mehr rotieren und dadurch länger in den Werken arbeiten können und nicht nach kurzer Zeit schon krankheitsbedingt ausscheiden müssen.“ Da habe man schon einige Verbesserungen erreicht. Trotzdem liege in seinem Betrieb die bezahlte Krankenquote noch deutlich über dem Branchendurchschnitt. Amazon geht auf diese Angaben nicht ein, sondern verweist auf das konzerneigene Gesundheitskonzept. Bis dieses auch den Arbeitern genügt, besuchen sie sich bei Streiks mit Busladungen voll Helfern und geben sich gegenseitig Tipps.

Gewerkschafter Voss fährt im Oktober nach Barcelona, hier treffen sich Gewerkschaften aus allen Ländern, in denen Amazon Standorte hat: Großbritannien, Luxemburg, Deutschland, Polen, Tschechien und Spanien. Das Ziel: gemeinsame Aktionen und Tarifverträge überall. Gewerkschafter Melzer und Georgia Palmer sitzen seit August mit Foodora am Tisch und verhandeln. Eine Verschleißpauschale wurde schon zugesagt, über die Höhe wird noch gestritten. Aber die Gespräche seien konstruktiv, sagen beide Seiten. In anderen Ländern und Städten gehen die Fahrer weiter auf die Straße. Bis auch mit ihnen gesprochen wird.



Über die Autoren

Diese Recherche stammt von Investigate Europe, einem paneuropäischen Team mit neun Journalisten aus acht europäischen Ländern, das europaweit relevante Themen recherchiert, gemeinsam Thesen erarbeitet und alle Ergebnisse teilt. Unterstützt wird das Projekt durch die Hans-Böckler-Stiftung, die norwegische Stiftung Fritt Ord, die Stiftung Hübner & Kennedy, die Rudolf-Augstein-Stiftung und die Open Society Initiative for Europe. Das Team kooperiert mit den NGOs Journalismfund und N-Ost. Außer den beiden Autoren arbeiten Crina Boros, Wojciech Ciesla, Ingeborg Eliassen, Leila Minano, Nikolas Leontopoulos, Maria Maggiore und Paulo Pena mit. Mehr zu dem Projekt: www.investigate-europe.eu.

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