Data Detox
„Wenn wir über W-Lan reden, dann stellen wir uns meist etwas Immaterielles vor“, erzählt Julian Oliver an einem Sonntagmorgen vor 30 Workshopteilnehmern im HKW. „Das ist es aber nicht. W-Lan ist Teil der ganz normalen physischen Welt.“ In kurzer Folge führt der 42-jährige Neuseeländer daraufhin durch die Entwicklung der drahtlosen Übertragung, erklärt, warum W-Lan letztlich genauso funktioniert wie Radio (nur mit kürzeren Wellen) und warum aus genau diesem Grund der W-Lan-Empfang in der Nähe von Mikrowellen oft leidet. „Die Luft selbst ist zu einem Kabel geworden“, sagt Oliver – und fügt nach kurzer Pause hinzu: „Also können wir es auch abhören.“
Das Publikum, eine ungewöhnliche Mischung aus interessierten Museumsbesuchern mittleren Alters, monochrom gekleideten Nerds und aktivistisch veranlagten Künstlern lauscht aufmerksam den enthusiastischen Erläuterungen des Programmierers. Sechs Stunden später hat Julian Oliver ihnen beigebracht, wie man den gesamten W-Lan-Verkehr in der Umgebung abhört, aufzeichnet und sich anschaut. Kaum einer der Anwesenden hatte Vorkenntnisse in Programmierung.
Big Data jenseits von Utopie und Zukunftsangst
Julian Oliver ist einer der Hacker der ersten Stunde, wie er selbst sagt. Er programmiert, seitdem er acht Jahre alt ist, und hat irgendwann beschlossen sein Wissen in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, statt in den der Geheimdienste. „Nicht, dass ich keine Angebote bekommen hätte“, sagt er und grinst. Olivers Workshop läuft unter dem Serientitel Data Detox und ist Teil der Ausstellung Nervöse Systeme, die vom 11. März bis zum 9. Mai im Haus der Kulturen der Welt stattfindet – nur wenige hundert Meter vom Kanzleramt entfernt. „Quantifiziertes Leben und die soziale Frage“, lautet der etwas sperrige Untertitel der Ausstellung. Die Ko-Kuratorin Stephanie Hankey erzählt den Gedanken dahinter: „Wir wollten eine Ausstellung machen, die sich mit den Folgen von Big Data auseinandersetzt, ohne die gewohnten Utopien oder Dystopien des technischen Fortschritts zu zeigen.“
Stattdessen, so erzählt die 35-Jährige, während sie durch die Ausstellung führt, sollen die Exponate den Besuchern ermöglichen, eine eigene Einstellung zum gegenwärtigen Zeitalter der Daten zu finden. Mit ihrer abstrakt-futuristischen Architektur macht die Ausstellung dann auch eher den Eindruck einer gut zusammengestellten, begehbaren Zeitschrift, die so gar nicht sperrig daher kommt: Der Film „Patterns of Life“ von Julien Prévieux beispielsweise zeigt die Geschichte der Vermessung menschlichen Lebens, von den frühen Aufzeichnungen von Sportlerbewegungen mit Plattenkameras über die Optimierung von Küchen für Hausfrauen und Fabriken für Arbeiter bis hin zu Kameraüberwachung und Fitnesstrackern. In der Zusammenfassung dieser Entwicklung wird schnell deutlich, dass Selbstvermessung nichts Neues ist, sondern vielleicht gerade wegen seiner langen Geschichte aktuell so erfolgreich.
Welche Daten sendet mein Laptop an Apple?
Drei Bilder aus dem fantastischen Projekt 9 eyes von Jon Rafman hingegen zeigen absurde Schnappschüsse, die ursprünglich Googles Kameraautos für Google Street View gemacht haben. Der Künstler wanderte wochenlang durch die eingefrorene Welt von Street View und fand ausgebrochene Tiger, Überfälle oder prügelnde Zuhälter. Bin ich auch irgendwo auf diesen Google-Bildern?, schießt es einem durch den Kopf.
Am Ende der Ausstellungshalle gibt es dann noch den White Room, einen gleißend-weißen Raum wie ein Apple Store, inklusive Genius Bar. An der Bar jedoch wartet niemand, der einem etwas verkaufen will. Weiß gekleidete Mitarbeiter antworten stattdessen bereitwillig auf Fragen der Besucher. Gerade will ein Herr Mitte 40 wissen, ob er eigentlich irgendwie herausfinden kann, welche Daten sein MacBook an Apple sendet. Der Mitarbeiter grübelt.
Neben dem umfunktionierten Apple-Mitarbeiter liegt ein iPad, „Newstweek“ steht auf dem Bildschirm, ein Werk von Julian Oliver, dem Hacker, der gerade ein Stockwerk weiter oben seinen Workshop-Teilnehmern erklärt, wie man W-Lan-Verkehr überwacht. „Newstweek erlaubt es den Ausstellungsbesuchern, die Nachrichten umzuschreiben“, erklärt Kuratorin Stephanie Hankey. Auf dem Bildschirm sind die Nachrichtenseiten von Zeit und Tagesspiegel, BBC und CNN zu sehen. Klickt man auf eine davon, bietet das Programm einem an, die Schlagzeilen zu ändern. Alle Besucher der Ausstellung, die im kostenlosen Ausstellungs-W-Lan angemeldet sind, werden nun die geänderten Schlagzeilen sehen anstatt der echten. Alles, was Oliver dafür installiert hat, ist ein kleiner W-Lan-Stecker.
Mitmachen statt Rückzug
„Dieser Zusammenprall zwischen dem Organischen und den Maschinen, die Vermischung von Daten und menschlicher Sprache, das ist das Leben in einer Datengesellschaft“, sagt Hankey jetzt zu dem noch immer etwas verwirrten Journalisten vor ihr. Damit es nicht bei dieser Verwirrung bleibt, gibt es die Workshops, sagt Hankey, die mit ihrem Tactical Technology Collective aus Autoren, Codern und Künstlern seit Jahren Schulungen für Journalisten, NGOs und Aktivisten gibt. Das Interesse an den Kursen ist so groß, dass die Organisatoren spontan mehrere Termine hinzugefügt haben, um dem Ansturm gerecht zu werden. „Anatomiestunde Computer“ heißt einer, „De-Googlize Your Life“ ein anderer. „Smombies und Smart Girls“ wirbt um weibliche Teilnehmer.
Der verwirrte Autor hingegen denkt sich: Ich brauche dringend mehr Data Detox.