Die letzte Meile. Oder: Warum sind wir eigentlich hier?
Die letzte Meile. Oder: Warum sind wir eigentlich hier?
“Ich habe ja die ersten Jahre vor allem durch meine Nichtanwesenheit zur re:publica beigetragen”, sagt Bloggerin Katrin Passig und erzählt den Gästen der zehnten re:publica erst einmal, wie sieden Eindruck erwecken können, sie seien schon immer dabei gewesen. „Sagt einfach: ‘Wisst ihr noch damals, in der Kalkscheune, als es kein Internet gab?’ Dann gehört ihr sofort zu den alten Hasen.“ Das W-LAN funktioniert auch im zehnten Jahr der re:publica nicht allzu gut. Von den 8.000 Angemeldeten sind nämlich nicht nur 4.000 zum ersten Mal da, sondern alle benutzen ihre Smartphones dermaßen exzessiv, dass man sich fragt, ob überhaupt noch jemand etwas von den Vorträgen mitbekommt.
Es ist noch immer ein Klassentreffen, sagt dann Passigs Nachredner und wird melancholisch. Damals, im Ferienlager, also damals auf der ersten re:publica (der ohne Internet), da sei sofort „diese ganz besondere Atmosphäre dagewesen“ unter den 700 Teilnehmern. Das erste „Klassentreffen der Blogger“, wie es so oft genannt wurde. Und genau so müsse man versuchen, weiterzumachen, mit Gemeinschaftsgefühl. Nach den Veteranen betreten die Macher die Bühne und schlagen zumeist in die selbe Kerbe: Tanja Haeusler, Andreas Gebhard und Markus Beckedahl geben sich alle Mühe, das Gefühl molliger Gemeinschaft zu erhalten: „Ihr alle seid die re:publica“.
Ein Ort der Freiheit
Nach der Wohlfühlretorik und dem Schwelgen in Erinnerungen wird dann die ethische Fahne gehisst: Freiheit und Menschenrechte, Redefreiheit: „Das Internet ist ein Lebensraum, den es zu verteidigen gilt“, sagt Andreas Gebhard und zählt denn auch die moralischen Leitplanken auf, denen sich die Großveranstaltung noch immer verpflichtet sieht: „gegen Hass und Rassismus, für einen Ort an dem sich alle wohlfühlen“. Re:publica Urvater und Netzpolitik-Chefredakteur Markus Beckedahl warnt: „Die Offenheit des Netzes ist bedroht.“ Und fragt: „Wie können wir mit Massenüberwachung umgehen, wie kann das Netz denn ein Ort der Freiheit bleiben?“ Dazwischen macht er unschuldige Witze, das Publikum freut sich: „Irgendwie immer noch der Gleiche“, sagt ein Zuschauer zu seinem Nebensitzer.
Als sein Nachredner dann die Sponsoren vorstellt, IBM, Microsoft und Daimler, aber auch die Deutsche Bahn, die Telekom, Google und Vodafone, fährt einigen Zuschauern ein Grinsen über das Gesicht. Soso, Netzneutralität. Überwachungskritik, aha! Der Spagat zwischen den mahnend hackenden Netzaktivisten und der versammelten deutschen New Economy wird dieses Jahr wohl noch schwieriger.
Re:publica expandiert nach Irland
Noch eine Ankündigung zeigt, wie die re:publica sich in den letzten zehn Jahren entwickelt hat: Für Oktober 2016 wird die erste Erweiterung ins Ausland angekündigt: In Dublin soll die erste irische re:publica stattfinden, dann gesponsert von Guinness, wie am Logo unschwer zu erkennen ist. Die Menge johlt. Wir haben es geschafft! Erst Deutschland, dann die Welt. Wir! Nur was dieses „Wir“ in diesem Jahr eigentlich noch zusammenhalten soll, das ist völlig unklar. Dagegen hilft wohl auch kein Klassentreffen.
»Ein armes Netz für arme Menschen«
Die Macher verlassen die Bühne, der Kritiker hat seinen Auftritt. Die Eröffnungsrede hält dieses Jahr Eben Moglen, Professor für Recht und Rechtsgeschichte an der Columbia Law School in New York und Gründer des Software Freedom Law Centers. Mitgebracht hat er die Juristin Mishi Choudhary, die vor allem in Indien für die Rechte von Internetnutzern kämpft. Gemeinsam marschieren die beiden zur Attacke vor: „2025 werden wir die übriggebliebene Hälfte der Menschheit verkabelt haben“, donnert Moglen los, „das sollte eigentlich der schönste Moment der Menschheitsgeschichte sein, ein Moment der Bildung, der uneingeschränkten Kommunikation, der Freiheit. Aber das wird es nicht sein. Denn das Netz, das kommt, ist nicht das Netz, das wir wollen. Es ist eines der Überwachung, des Data Minings und des Neids.“ Der begnadete Redner scheint in eine Wunde der Anwesenden zu stechen, schnell wird es ruhiger im Saal. „Es ist ein Netz, das uns mehr beobachtet, als wir es beobachten, ein Netz, das mit menschlichem Verhalten Experimente ausführt. Swipe left, swipe right. Click, don’t click. Buy, don’t buy.“ Was daran das Problem ist? „Diese Maschine braucht kein Modell des menschlichen Geistes“, sagt Moglen. Jenes Netz würde uns zunehmend der Freiheit unserer Gedanken berauben – ganz einfach, indem es unsere Gedanken nimmt, neu ordnet, vorsortiert und dann wieder auf uns loslässt, ohne das wir genau wissen, was dazwischen passiert: „Das Mysterium des Backends ist das Mysterium der Gedankenfreiheit – während alle sich alleine auf die Schönheit des Frontends fokussieren, auf das Aussehen der Oberfläche.“
Seine Kollegin Mishi Choudhary geht dann genauer auf „die nächste Billion“ ein, jenes Großprojekt, in dem Facebook, Google, NGOs und Regierungen mehr Menschen in armen Ländern ans Netz bekommen wollen: „2025 wird alles das, was das Silicon Valley für Grundbedürfnisse hält, umsonst zur Verfügung gestellt sein. Aber das altruistische Gerede davon, die nächste Billion online zu bekommen ist falsch. Denn das wird nicht bedeuten, dass Fischerleute nun neue Arbeit haben oder die Bevölkerung ein besseres Gesundheitssystem. Das einzige, was dadurch sichergestellt wird, ist die Auslieferung von Anzeigen auf den Bildschirmen der Smartphones von noch mehr Menschen.“ Welche tatsächlichen gesellschaftlichen Vorteile die Verkabelung der restlichen Menschheit auf diese Weise bringt, sei vollkommen unklar.
Eben Moglen sagt: „Es wird ein armes Netz für arme Menschen sein.“ In mindestens 38 Ländern wolle Facebook kostenloses Internet zur Verfügung stellen. Doch was sie dafür bekommen seien die Bewegungsdaten der Bevölkerungen von den Netzbetreibern. Das sei der Deal. Informationen zum Preis von Überwachung.
Der neue Totalitarismus
„Die Überwachungsmaßnahmen, die derzeit von großen Internetfirmen umgesetzt werden, hätten wir niemals zugelassen, hätte der Staat gesagt, er plane deren Umsetzung“, sagt Moglen. Dabei werde es immer klarer, dass Staaten auf diese Daten zugreifen. Dass Google & Co auch in diktatorischen Staaten mit den Regierungen kooperieren sei längst bekannt. Niemals zuvor sei es so einfach für Staaten gewesen, eine vollkommene Form der Überwachung zu schaffen. Das einzige, was sie tun müssten, sei sich mit den großen Plattformfirmen zu arrangieren.
Das gleiche gelte für neue Überwachungsmöglichkeiten durch Finanzinstitute: „Wenn alle Zahlungsweisen bargeldlos werden, bedeutet das das Ende des freien Marktes“, poltert Moglen. Denn sobald alle Transaktionen in Bitstreams umgerechnet würden, könne immer eine dritte Partei sagen: „Du kannst kaufen was du willst, aber wir können jederzeit sagen, wir gestatten es nicht.“ Sei es aus Sicherheitsgründen oder aufgrund mangelnder Kreditwürdigkeit. Nachdem Moglen sich in Höchstform geredet hat, überlässt er Mishi Choudhary den ersten Lösungsvorschlag: „Alles was bleibt, ist unsere Fähigkeit zu verschlüsseln. Wenn wir das verlieren, verlieren wir die Redefreiheit überall auf der Welt.“ Wie genau das gehen soll? Auch dafür hat Moglen einen Vorschlag: Der letzte Kampf sei derjenige um die letzte Meile, der Zugang von den Knotenpunkten der Netze zu den Haushalten, v.a. in den Ländern, in denen diese Verbindungen noch nicht geschaffen wurden.
„Wir brauchen ein Gerät, dass beispielsweise alle Daten eines Dorfes vermischt, verschlüsselt und dann erst an den größeren Zugang weiterleitet“, sagt Moglen, der für diesen Zweck einmal die [FreedomBox]http://freedomboxfoundation.org/ erfunden hat. Dann hätten wir selbst wieder ein Mitspracherecht, welche Daten wir über unsere Privatssphäre herausgeben wollen. Jeder könne ja trotzdem noch beschließen, dass er Bilder aus seinem Schlafzimmer für alle ins Netz stellen wolle.
Hoffnung auf den Nachwuchs
Nach ihrem Rundumschlag gegen das Internet, in dem wir leben, wenden die beiden sich zum Abschluss der Eröffnungsrede an die junge Coder-Generation: „Wir haben die freie Technologie und die freie Software dafür gebaut, ein freies Netz umzusetzen. Jetzt ist es an der jungen Generation dieses Planeten, zu coden, zu denken und zu organisieren, wie aus dem Internet der Dinge ein Internet der Menschen gemacht werden kann.“
Auf die gnadenlos pathetische Rede folgt tosender Applaus. Dann senken alle wieder die Blicke – herab auf ihre Smartphones.