Bildhafte Darstellungen der Protonenkollisionen im LHC gibt es schon länger. Nun soll man sie auch hören können. Grafik: Atlas/Cern

Die Melodie zerfallender Teilchen

600 Millionen Teilchen kollidieren im Atlas-Detektor am Teilchenbeschleuniger des Cern – pro Sekunde. Wie vermittelt man das? Zwei junge Wissenschaftler übersetzen die Kollisionsdaten nun in Musik.

Interaktive Karten, Diagramme, 3D-Modelle – die letzten Jahre haben in allen Wissenschaftsbereichen eine Zunahme neuer Visualisierungsmethoden verzeichnet. Das Atlas-Experiment am Teilchenbeschleuniger LHC am Kernforschungszentrum Cern wendet stattdessen jetzt den Fokus von den Augen auf die Ohren – und veröffentlicht im Quantizer die Kollisionen von Teilchen als Musik.

Wie vermittelt man die Experimente einer physikalisch wenig gebildeten Allgemeinheit? Diese Frage beschäftigte Ewan Hill, einen Doktoranden der University of Victoria im kanadischen Vancouver schon eine längere Zeit. Er forscht im Rahmen seiner Doktorarbeit am Atlas-Detektor am Cern. Das Experiment ist eines von insgesamt vier Großexperimenten, die parallel am dortigen Teilchenbeschleuniger LHC laufen. Hier wurde 2012 das Higgs-Boson nachgewiesen. Und in jenem Atlas-Detektoren wird auch versucht herauszufinden, ob es neben den bislang bekannten Bausteinen der Materie noch weitere gibt. 7600 Forscherinnen und Forscher aus aller Welt arbeiten derzeit daran. Es geht um nichts weniger als die Grundbestandteile unseres Universums. Das Problem dabei bleibt: Es versteht außer den Wissenschaftlern kaum jemand. Und hat bislang rund sechs Milliarden Euro gekostet. „Wir sind alle sehr dankbar, dass es Cern gibt“, sagt Ewan Hill, bei dem es gerade Sieben Uhr morgens ist, als uns um 16 Uhr mitteleuropäischer Zeit endlich ein Gespräch über Skype gelingt: Der Teilchenbeschleuniger werde von Steuerzahlern bezahlt. Deswegen sei ihm und seinen Kollegen extrem wichtig, ihre Arbeit mehr Menschen nahe zu bringen.

Die Welt als akustische Leinwand

Wie also die Folgen des Aufeinanderklatschens von Protonen mit 99,99 prozentiger Lichtgeschwindigkeit darstellen? „Ein Weg ist sicherlich, Bilder davon zu generieren“, sagt Hill. Das macht Atlas, indem auf der Webseite atlas-live.cern.ch zweimal pro Minute ungewöhnliche Kollisionen visualisiert werden. Aber vielleicht interessieren sich eben nicht alle Menschen für Bilder.

Messergebnisse sichtbar machen. Die bildhafte Übersetzung der Kollisionen lässt sich schon länger online betrachten.

An diesem Punkt kam Juliana Cherston ins Spiel. Die 25-Jährige macht derzeit ihren Master-Abschluss am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology. Von dort aus ist sie ebenfalls per Skype mit in der Leitung, 10 Uhr ist es bei ihr gerade. Früher hat Cherston einen Bachelor in Physik gemacht, arbeitet inzwischen aber in einer Forschungsgruppe um den Wissenschaftler Joe Paradiso, die sich damit beschäftigt, wie man Daten hörbar machen kann, der Responsive Environments Group: „Wir haben diese große Vision, das unendliche Netz an Sensoren, das sich derzeit über die Welt spannt auditiv erlebbar zu machen“, erzählt sie enthusiastisch. Sie stellt sich vor, dass Sound wie eine Leinwand wird, mit der Künstler die Datenströme der Gegenwart bearbeiten und in Echtzeit vermitteln können – egal ob Bewegungs-, Verkehrs- oder Forschungsdaten. „Mit meinem Hintergrund in Physik kam ich allerdings schnell auf das Cern und mein Dozent hat mich dann mit Ewan Hills in Kontakt gebracht.“

Glückstreffer. Hills musste nicht lange überredet werden. Nicht zuletzt, weil er in seiner Freizeit gerne Musik macht. „Es gibt diese interessante Eigenschaft von Quanten, dass sie gleichzeitig als Welle und ein Teilchen betrachtet werden können“, sagt Hills. Die Idee, jene Wellen in Soundwellen umzuwandeln läge eigentlich nahe. Also haben die beiden überlegt, wie sich Daten aus den Detektoren von Atlas in Musik umwandeln lassen. Der zwiebelförmig aufgebaute Detektor, in dem die Protonen kollidieren, zeichnet vor allem die Flugbahnen der Teilchen auf, die aus der Kollision der Protonen hervorgegangen sind. Dazu messen einzelne Sensoren die Wechselwirkung, die erzeugt wird, wenn Teilchen durch sie hindurchrauschen.

Cosmic, House & Suitar Samba

Teilchenkrach als Suitar Samba. Hier eine Aufnahme einer Reihe von Kollisionen in dem Stil, den Ewan Hills komponiert hat. Die Live-Vertonung lässt sich auf der Website von Quantizer hören.

„Diese räumliche Verteilung gemessener Energie bildet eine Grundlage dafür, wie die Messdaten in Musik umgewandelt werden können“, erklärt Cherston. Der Komponist wählt eine bestimmte Tonart, in die die Datenpunkte übersetzt wird. So klingt die Musik relativ melodisch. Ähnliches gilt für den Rhythmus. Musiker können aber auch wesentlich freier mit der Plattform arbeiten, sagen die beiden. Genauso kanneine Art Synthesizer aus verschiedenen Messinformationen zusammengestellt werden: Die Gesamtenergie, die bei einer Kollision gemessen wurde kann die Tonhöhe bestimmen, die Laufbahn der Zerfallsprodukte den Rhythmus. Oder die sogenannte „fehlende Energie“, die beim Aufprall bislang unmessbar verloren gegangen ist, kann darüber bestimmen, wie zwei bestehende Musikstücke zusammengemischt werden.

Bislang gibt es die Musikrichtungen Cosmic, House und Suitar Samba. Letzteres hat Hills nach einem fröhlichen Abend mit Musikerfreunden komponiert. Auf der Seite quantizer.media.mit.edu sind sie ununterbrochen zu hören. Beständig ändern sie sich, basierend auf live-übertragenen Daten von Kollisionen. Eine fantastische Symphonie des Zerfalls.

Alle Musiker sollen die Daten nutzen können

Ungewöhnliche Zusammenarbeit. Juliana Cherston und Ewan Hills bei der Vorstellung ihres Projekts. Foto: Cern

Natürlich basieren die Stücke nicht auf allen Daten, die von den Atlas-Sensoren gemessen werden. Denn die 600 Millionen Kollisionen, die dort pro Sekunde stattfinden erzeugen 20 Terrabyte Daten pro Sekunde. Bislang hat noch niemand eine Möglichkeit gefunden, solche Datenmengen überhaupt so schnell zu speichern. Die Musik basiert daher auf der Schnittstelle, die zweimal pro Minute besonders ungewöhnliche Kollisionen überträgt und auch für die Visualisierungen benutzt wird.

Die drei ersten Stücke, die bislang auf dem Quantizer zu hören sind, sollen der Türöffner zu immer neuen Kompositionen interessierter Musiker sein. „Das Ganze ist als Plattform gedacht“, sagt Cherston. Musiker können sich melden und bekommen dann je nach Idee und Kenntnisstand Zugangsmöglichkeiten zu dem System. Dann können auch sie mit dem Zerfall von Materie in Energie komponieren.

Wie lange wart ihr dafür eigentlich zusammen am Cern, frage ich das ungewöhnliche Paar zum Schluss. Durch die Skype-Leitung klingt verzerrtes Gelächter aus Cambridge und Vancouver. „Wir haben uns nur ein einziges Mal ganz kurz getroffen“, sagt Hills. „Den Rest haben wir von Kanada und den USA aus über Skype organisiert.“