Diese Songs hört Berlin
Berliner sind, so das Klischee, recht individualistisch. Ob Neukölln oder Reinickendorf – jeder Bezirk beansprucht seine ganz eigenen Vorlieben, seinen eigenen Stil, seine ganz besonderen Bewohner. Wir wollten deshalb wissen, wie sich das im Musikgeschmack widerspiegelt und haben bei Spotify nachgefragt, ob es nicht Daten gibt, die zeigen, was ihre User wo in Berlin hören. Die Antwort: Klar gibt es die, könnt ihr haben. Außerdem haben wir uns gefragt, ob sich der Berliner Musikgeschmack insgesamt von dem anderer deutscher Großstädte unterscheidet. Die Ergebnisse sind so überraschend wie ernüchternd. Doch hören Sie erst einmal selbst:
Baby I like your style / Grips on your waist / Front way, back way / You know that I don’t play / Streets not safe / But I never run away / Even when I’m away / Oti, oti, there’s never much love when we go OT / I pray to make it back in one piece / I pray, I pray
Das ist die erste Strophe des meistgehörten Songs in den Gesamtcharts für Berlin, „One Dance“ vom kanadischen R&B Rapper Drake. Auch im Wettbewerb absurder Songtexte ein Kandidat für ganz weit oben. Das gilt aber auch für andere Songs, die in den Berliner Top 30 vertreten sind. „I took a pill in Ibiza“ von Mike Posner war vor dem Remix von Seeb in der Originalversion ein Gitarrensong. Langsam und ziemlich depressiv. Das Remix-Ergebnis (Platz 7) ist so ziemlich das Gegenteil davon. Der Kontrast aus Text und Musik macht das ganze Arrangement ziemlich absurd. Das passt dann wieder zu Berlin. Hauptsache Tanzen, auch wenn der Inhalt zu wünschen übrig lässt. In diesem Credo reiht sich ebenfalls der neuen Track von Justin Timberlake (Platz 9) ein. Klassische Gute-Laune-Sommermusik.
Kiiara’s „Gold“ (Patz 16) hingegen gehört zu den wenigen Songs, die in der Berlin-Playlist nicht einfach so durchs Ohr huschen. Eigenwilliger Gesang, starker Beat, in minimalistischem Gewand bemerkenswert zusammengemixt. Balladen sind indes kaum vertreten. Großer Herzschmerz auch nicht. „I hate you I love you“ von gnash feat. Olivia O’Brian ist eine der wenigen Ausnahmen. Thema: Nicht mit Herzschmerz aufhalten, einfach weitermachen. So, wie das hierzulande auch mit Flughäfen praktiziert wird. Wer weiß schon, wann man das nächste Mal abhebt.
Dance-Pop und Europameisterschaft
Mark Forster’s „Wir sind groß“, der Song, den sich das ZDF als EM-Song ausgesucht hat, belegt Platz 19 in den Berliner Spotify-Charts. Auf Textebene pathetischer Pop und ungefähr das, was herauskäme, wenn man Xavier Naidoo (WM-Song 2010) und Andreas Bourani (WM-Song ARD 2014) miteinander kreuzt.
Hört man sich die Berlin-Top 30-Playlist von vorne bis hinten an, klingt das in der Summe ein bisschen nach den frühen 2000er-Charts. Und irgendwie mutet das alles aus Berlin-Sicht fast schon reaktionär an. Nichts abweichendes, auffälliges, avangardistisches. Sia auf Platz 2, Justin Timberlake auf Platz 9, Rihanna auf Platz 24, 27 und 46 und Coldplay auf Platz 38. Im besten Fall: Solider Pop, schönes Lala. Nicht weniger, aber vor allem auch nicht mehr.
Was macht DMX in Steglitz?
Was aber ist mit den Bezirken? Die Datenanalyse zeigt vor allem eines: Das große Gehabe um die Eigenheiten der Berliner Stadtteile ist – was den Musikgeschmack anbelangt – völlig haltlos: Die oberen drei Chartplätze sind in nahezu allen Bezirken gleich: Drake steht mit „One Dance“ in jedem Bezirk auf Platz 1, mit Ausnahme von Spandau. Ausgerechnet Spandau! Hier nur auf Platz 2, geschlagen von dem Song mit dem Titel „Sex“ von der Band mit dem ebenso unkreativen Bandnamen Cheat Codes. Die Lyrics dieses Songs enthalten solche Perlen wie „you and me“. Er enthält aber auch den wohl schlechtesten Reim seit Erfindung des Schenkelklopfers: „Do it in the shower. Pussy Power…“
Die Bezirks-Klischees hingegen schlagen sich in den Charts kaum nieder. Neukölln hört im großen und ganzen nichts anderes als Mitte. Aber was tut sich da plötzlich in Steglitz-Zehlendorf hervor: DMX auf Platz 14! Das angeblich bürgerlich-spießige Steglitz-Zehlendorf pflegt den guten alten Gangster-Rap. „X gon’ give it to ya“… dabei hat er das zuletzt in den frühen 2000ern erfolgreich getan.
Im Kontrast dazu haben es auch ein paar Schlager in einige Berliner Bezirkscharts geschafft. „Die immer lacht“ von Stereoact und Kerstin Ott belegt in in Spandau Platz 21, in Treptow-Köpenick Platz 26 und in Marzahn und Steglitz-Zehlendorf Platz 27. Ist das überhaupt noch Schlager? Immerhin findet sich der Dance-Schlager, wenn man so will, nicht in den Neukölln- oder Kreuzberg-Top 30. Alternativer ist das Musikprogramm in den alternativen hippen Stadtteilen trotzdem nicht.
Ein Land hört Hörspiel
Schaut man sich nun statt der meistgehörten Songs die Liste der meistgehörten Künstler pro Bezirk an, zeigt sich wesentlich Erstaunlichereres: Berlin ist anscheinend eine Stadt der Hörspiel-Enthusiasten. Seit April diesen Jahres hat Spotify Die drei ??? neu im Angebot. Der Erfolg der Kinder-Krimi-Serie zieht sich durch die ganze Stadt. In jedem Bezirk ist das Hörspiel auf Platz 1. Dass das jedoch kein Berliner Phänomen ist, zeigt die Deutschlandkarte: Das gesamte Land scheint den erstmals 1968 in Deutschland veröffentlichten Detektiv-Geschichten verfallen zu sein. Nutzen vor allen Kinder Spotify? Oder deren Eltern, um sie ruhigzustellen? Eine Datenanalyse vom Magazin Stern hat für April diesen Jahres das Gegenteil herausgefunden: Die meisten Hörer von Die drei ??? sind zwischen 18 und 29 Jahre alt und hören die Geschichten am häufigsten um 21 Uhr. 300.000 Aufrufe hatte die Serie zu dieser Uhrzeit durchschnittlich jeden Abend im April.
Neben den drei ??? sind TKKG und Fünf Freunde ebenfalls in allen Städten und Berliner Stadtteilen in den Charts vertreten. Deutschland, Land der Kindgebliebenen?
Deutschrap in Dresden
Dresden, das Sorgenkind Merkel’scher Willkommenskultur, sticht heraus. Viel Rap und deutschsprachiger als die anderen deutschen Städte: Kontra K (Platz 3), K.I.Z (Platz 4), Alligatoah (Platz 7), EMINEM (Platz 14), Kollegah (Platz 18), Annenmaykantereit (Platz 20).
Und dann ist da noch Ronny Matthes (Platz 8), der Redaktion unbekannt. Die Website verrät: Gemafreie Musik aus Dresden, im Angebot: „Hintergrundmusik für Hotels, Meditationsmusik für Wellnessoasen, Weihnachtsmusik für Weihnachtsmärkte“. Hätten wir das auch geklärt.
Von wegen Individualismus
Während jahrelang davon die Rede war, dass die Digitalisierung der Musikindustrie zu immer persönlicheren und lokalspezifischen Musikvorlieben führt („Long Tail“ heißt diese These), ist davon auf aggregierter Ebene überhaupt nichts zu sehen: Die Hörgewohnheiten scheinen weiter extrem von Radiocharts und den großen Labels geprägt zu sein. Lokale Unterschiede: kaum bemerkbar.
Auch fragt sich, ob das vielleicht eine Art Spotify-Effekt ist, die der Algorithmus der Musik-Empfehlungen, die Auswahl auf der Startseite und die Auswertungsergebnisse maßgeblich mitprägen. Wie wird entschieden, was auf die Startseite kommt? Gibt es zum Beispiel Labelpartnerschaften, deren Songs dann bevorzugt empfohlen werden? Die Sprecherin von Spotify Deutschland verneint das: „Die Startseite von Spotify basiert auf einem Algorithmus, der personalisiert jedem Nutzer individuelle Vorschläge macht, basierend auf seinem Hörverhalten.” Es gebe keine Partnerschaften oder Sponsorings.
Es sind also die Berliner selbst, die diesen Musikgeschmack haben. Und sie haben, zumindest nach Bezirken aggregiert, alle einen sehr ähnlichen Geschmack. Ob Osten oder Westen, Szene- oder Randbezirk: Die Stadt hört hauptsächlich das auf Spotify, was ihre Bewohner auch im Radio zu hören bekommen. Und das unterscheidet sich auch nicht sonderlich von anderen Großstädten in Deutschland. Naja, zumindest haben wir jetzt alle den gleichen Ohrwurm.
Die ausgewerteten Daten beziehen sich auf Mai 2016. Dabei wurden alle Nutzer von Spotify berücksichtigt, die bei ihrer Anmeldung ihre Postleitzahl angegeben haben. Für den Städtevergleich wurden alle deutschen Städte mit mehr als 300.000 Einwohnern berücksichtigt. Alle Daten stammen von Spotify selbst.