Studienfach Informatik boomt in Berlin
Beim Berliner Informatikprofessor Thomas Schwotzer geht es manchmal zu wie in einer Jobvermittlung. Nicht selten rufen IT-Unternehmen bei ihm persönlich an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) an, um sich zu erkundigen, welche Studierende er für Jobs empfehlen könne. Weil die Nachfragen nach Studierenden immer häufiger kamen, hat die HTW einen IT-Tag eingeführt, um Studierende und Personalrecruiter zusammenzubringen. „Die Firmen rennen uns die Bude ein“, sagt Schwotzer.
Zu viele Studienabbrecher
Informatikabsolventen werden händeringend gesucht – in Berlin wie deutschlandweit. Immer wieder warnen Fachverbände vor einem Fachkräftemangel, letzten Herbst waren laut Bitkom bundesweit 40 000 Stellen offen. Das liegt auch daran, dass nach dem Platzen der Internetblase um die Jahrtausendwende die Studierendenzahlen jahrelang zurückgingen.
Die Absolventen dieser Kohorten fehlen derzeit. Und wer ein Studium aufnimmt, führt es nicht immer zu Ende: Die Informatik ist eines der Fächer mit den höchsten Abbrecherquoten. „In manchen Jahrgängen steigt fast die Hälfte der Anfänger aus“, sagt Schwotzer. Die meisten wechselten in andere Studiengänge.
Die Berliner Hochschulen haben auf die Misere reagiert. Nicht nur, dass sie die Curricula modernisieren. Seit einigen Jahren ist das Fach unter Studienanfängern wieder stark nachgefragt. „Das könnte durchaus an Berlins neuem Ruf als Start-up-Metropole liegen“, sagt Hans-Ulrich Heiß, Informatikprofessor und Vizepräsident für Studium der Technischen Universität. An der Humboldt-Universität beobachtet Niels Pinkwart, stellvertretender Direktor des Informatik-Instituts, dass mehr und mehr Studierende ihre Abschlussarbeiten zu einem Thema schreiben wollen, das sie später befähigt, ein Start-up zu gründen: „Das ist bei den Studierenden im Kopf.“
Kein Numerus Clausus
Sehr viel wichtiger als der Lockruf der Start-ups dürfte allerdings sein, dass in Berlin das Fach seit einigen Jahren vom Numerus Clausus (NC) befreit ist, Interessenten sich also unabhängig vom Notenschnitt einschreiben können. Seitdem gehen die Studierendenzahlen in die Höhe. In der Stadt waren 2014 mehr als 10 000 Studierende in der Informatik oder einem verwandten Fach wie Medieninformatik eingeschrieben – fast 2500 mehr als 2010. Eine ähnliche Tendenz gibt es in Brandenburg.
Und der Boom hält an: An der TU starteten zum Wintersemester 520 Erstsemester in der Informatik. Waren die Lehrkapazitäten früher nicht richtig ausgelastet, drängeln sich jetzt die Studierenden – denn rechnerisch kann die TU in dem Fach nur 324 Studienanfänger aufnehmen. Natürlich könne man über die Wiedereinführung des NC nachdenken, sagt TU-Vize Heiß. Noch komme man aber halbwegs klar: „Und wir erfüllen ja auch die Wünsche unserer Volkswirtschaft.“ An der HU sitzen in den Anfängervorlesungen derzeit mehr als 400 Studienanfänger: „Wir sind damit eigentlich schon über dem Limit, was unsere Hörsäle räumlich hergeben“, sagt Pinkwart.
Böse Überraschungen
Nun scheitern viele Studierende, lange bevor sie den Abschluss schaffen. Bundesweit brechen an Universitäten 43 Prozent der Bachelorstudenten im Fach Informatik ab. An Fachhochschulen sind es 37 Prozent. Oft kämen Studienanfänger mit völlig falschen Vorstellungen, was das Fach ausmacht, sagen die Professoren.
Dass Informatik eine starke Theoriekomponente hat und hohes Abstraktionsvermögen erfordert, sei nicht allen klar. „Informatik ist eben mehr als Spielen und Webseiten bauen“, sagt Thomas Schwotzer von der HTW. Gleich im ersten oder zweiten Semester würden daher viele wechseln. Niels Pinkwart sagt, dass die meisten bei den Prüfungen in der theoretischen Informatik oder den mathematischen Grundlagen scheitern: „Bei den eher angewandten Themen sieht es dagegen besser aus.“
Die Informatiker wünschen sich daher, dass Jugendlichen schon an den Schulen nähergebracht wird, was sie im Studium erwartet. In Berlin ist Informatik in der Schule nur ein fakultatives Fach. Hier solle man sich Sachsen zum Vorbild nehmen, wo das Fach Pflicht ist, heißt es. Gemeinsam vorankommen
Aber muss nicht auch an den Hochschulen etwas passieren? Natürlich gebe es eine größere Gruppe von Studierenden, die vielleicht nicht hochbegabt für die Informatik sind, mit guter Betreuung das Studium aber schaffen können, sagt Heiß. Doch wenn – wie aktuell – gute Betreuungsrelationen fehlen, klappe es manchmal nicht, sich in der nötigen Weise um diese Gruppe zu kümmern. Die Unis hoffen, dass die Überlast gelindert werden kann, wenn wie geplant berlinweit 30 neue Juniorprofessuren für den IT-Bereich eingerichtet werden.
An der HTW hat Thomas Schwotzer bemerkt, dass vor allem Studierende aus Familien ohne akademischen Hintergrund durch erste Misserfolge leicht zu verunsichern sind. Die Dozenten sprechen daher Probleme aktiv an und erklären, dass nicht bestandene Prüfungen keine Katastrophe sein müssen. Zudem kommen immer jüngere Erstsemester, denen es schwerfalle, sich auf die Hochschule umzustellen. „Die müssen oft lernen, wie sie selbstständig lernen.“ Die HTW hat ein „Lernzentrum Informatik“ eingerichtet, in dem sie Studierenden überfachliche Fähigkeiten beibringt oder in Brückenkursen auf das Studium vorbereitet – mit großem Erfolg, wie Schwotzer sagt.
“Stolpersteine im Studium ausmerzen”
Ohnehin arbeitet die Gesellschaft für Informatik (GI) an neuen Empfehlungen fürs Studium. GI-Präsident Peter Liggesmeyer sagt, es müsse sich abbilden, dass die Informatik als Disziplin nicht mehr nur für sich stehe, „sondern in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinwirkt“. Die Entwicklung großer Systeme für die Industrie 4.0 setze voraus, dass Informatiker Gruppen aus verschiedenen Bereichen leiten können. „Ein Informatiker, der nicht mit anderen Akademikern kommunizieren kann, hat ein Problem.“ Themen wie Datensicherheit oder Big Data kommen dazu. In der Theorie gebe es dagegen Bereiche, die man nicht mehr zwingend brauche: „Wir sollten unnötige Stolpersteine im Studium ausmerzen.“ Nicht zuletzt müsse es gelingen, für Frauen attraktiver zu werden. Deren Anteil unter den Erstsemestern liegt bei 24 Prozent.
Manchmal helfen aber die besten Bemühungen nichts. Die Nachfrage nach dem Informatikstudium hängt auch stark davon ab, wie öffentlich die Jobaussichten für IT-Kräfte diskutiert werden. Studieninteressierte lassen sich da leicht beeinflussen, heißt es an den Unis. Die Geschichte zeige: Genauso schnell, wie der Andrang zunimmt, kann er wieder nachlassen.