Zurückgeblieben. Mit der zeitnahen Analyse von Handydaten könnten Züge gezielter ausgelastet werden. Foto: Imago/Schöning

Mit Handydaten gegen überfüllte Züge

Verkehrsbetriebe, Zentrum für Luft- und Raumfahrt und Telefónica testen in Berlin, wie sich Fahrgäste besser verteilen lassen. Mithilfe von den Daten, die unsere Handys beständig senden.

Die Besitzer rücken ihre bunten Fahrräder in der Regionalbahn noch etwas enger zusammen – doch keine Chance. Das Fahrradabteil im RB 27 auf der Strecke von Karow nach Wandlitz ist voll. Die beiden Wochenendausflügler, die in Basdorf zusteigen wollten, müssen draußen bleiben und auf einen weniger überfüllten Zug hoffen. Sommer – das ist die Zeit der Ferien, Kurztrips und der überfüllten Bahnabteile. Deren Überlastung hat einen einfachen Grund: Das Wetter ist flexibler als die Verkehrsplanung. „Unser größtes Problem ist die Unberechenbarkeit der Nachfrage, die oft vom Wetter abhängt“, sagt Elke Krokowski. Natürlich würden in den Sommermonaten auf den Ausflugsrouten mehr Züge eingesetzt als in den kälteren Monaten, sagt die Sprecherin des Verkehrsverbundes Berlin Brandenburg (VBB): „Aber wir können nicht immer Kapazitäten anbieten, die nur an sonnigen Tagen gebraucht werden und an den restlichen Tagen fahren wir heiße Luft durch die Gegend.“

Deshalb hat der Verkehrsverbund gleich mehrere Projekte angestoßen, um der Leere und der drückenden Enge gleichermaßen entgegenzuwirken. Eines davon heißt „ProTrain“. Das Projekt ist ein Eingeständnis, dass es mittelfristig nur schwer möglich sein wird, einfach mehr Züge zu kaufen. „Die Verkehrsunternehmen haben nicht unendlich viele Reservefahrzeuge, die einfach so rumstehen und auch der Ausbau der Kapazitäten ist ein sehr komplexer Vorgang“, gibt Krokowski zu. Die Deutsche Bahn beispielsweise hat seit Jahren einen Fahrzeugmangel, weil Bombardier bei der Lieferung neuer Züge hinterherhinkt. Dazu kommen natürliche Ausbaugrenzen, „da zum Beispiel die Züge wegen der Bahnsteige nicht unbegrenzt lang werden können“, sagt Krokowski. Auch könne die Zugtaktung nicht beliebig verkürzt werden.

Handydaten von Telefónica-Kunden werden genutzt, um Reiseverläufe nachzuvollziehen

Es bleibt also nichts anderes übrig als die vorhandenen Ressourcen effizienter zu nutzen. Und das dringend. Denn die Fahrgastzahlen erreichen jedes Jahr neue Rekordhöhen. Mittlerweile verzeichnet der VBB täglich rund vier Millionen Fahrten in seinem Verbundgebiet, das sich von Prenzlau bis Elsterwerda erstreckt. Künftig sollen deshalb Telefon-, Wetter- und andere Daten kombiniert werden, um die ÖPNV-Situation in Berlin und Umland zu entspannen. Neben dem VBB haben sich die Telefónica-Tochter NEXT sowie die DB Regio AG Nordost, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt und vier Datenanalyse-Unternehmen in einem Konsortium zusammengeschlossen. Algorithmen werten nun die großen Informationsmengen aus, die Fahrgäste bei ihren Fahrten mit dem RE3 (Stralsund-Berlin-Elsterwerda) und dem RE5 (Rostock-Stralsund-Berlin-Wünsdorf) erzeugen. 3,21 Millionen Euro kostet das Forschungsprojekt „ProTrain“, wovon das Bundesverkehrsministerium mehr als zwei Drittel übernimmt. 2020 soll es abgeschlossen sein. Doch was hat das mit Handys zu tun?

„Wir wollen zeigen, wie sich ganze Reiseketten zusammensetzen“, sagt Alexander Lange, Business Development Manager bei Telefónica NEXT. Dafür nutzt man die Daten, die bei den eigenen Kunden sowieso kontinuierlich anfallen. In Deutschland funken 48 Millionen Handyanschlüsse täglich etwa fünf Milliarden sogenannter Events an den Konzern. Events sind etwa SMS, Anrufe, Messenger-Nachrichten, E-Mails oder Webseitenaufrufe. Eigentlich sammelt der VBB schon lange selbst Fahrgastdaten. Ist das System nicht gerade ausgefallen, verzeichnen Bahntüren die Zu- und Ausstiege. Das hat praktische Verteilungsgründe. Wenn Kunden bei einem Unternehmen eine Fahrkarte gekauft haben, muss der VBB wissen, an wen diese Gelder gehen.

Wie wirken sich Fußballspiele auf Fahrgastverhalten aus?

Doch diese Auswertungen sind unscharf, sagt Langer: Insbesondere geben die reinen Fahrtzahlen aus aktuellen Zählsystemen keinen Aufschluss über individuelle Routen. Auch die Fahrgastbefragungen, die der VBB alle drei Jahre durchführt, lieferten ein sehr lückenhaftes Bild. Das dauerfunkende Smartphone soll die Wissenslücke füllen. „ProTrain“ ist das Anschlussprojekt von „Digital im Regio“. Dabei testet die Deutsche Bahn seit Anfang Juni ihr System „Colibri“. Das erfasst die Sitzplätze und Fahrräder mit Sensoren, um die Fahrgäste von RE3 und RE5 über WLAN mit Echtzeitinformationen zu versorgen.

Wie ist das Umsteigeverhalten? Gibt es besonders viele Menschen, die von A über B nach C reisen und wäre eine Direktverbindung deshalb sinnvoll? Wie genau wirken sich Sportevents auf das Fahrverhalten aus? In welchen Wagen fahren die meisten und in welchen die wenigsten Menschen? Und woher kamen die Besucher bestimmter Veranstaltungen, wie lange haben sie sich vor Ort aufgehalten? Die Millionen Datenpunkte der Telefónica-Kunden in Berlin sollen helfen, solche Fragen zu beantworten.

Einzelverhalten darf nicht erkennbar sein

Dabei dürfen keine Erkenntnisse über das Verhalten Einzelner möglich sein – das verbietet der Datenschutz. „Wir können nur Aussagen über hinreichend große Gruppen treffen und zum Beispiel sehen, dass 100 Reisende zu einem bestimmten Zeitpunkt an die Ostsee gefahren sind, wissen aber nicht, wer das war“, sagt Langer. Anonymisierungsplattformen, wie jene, die Telefónica Deutschland in Abstimmung mit der Bundesdatenschutzbeauftragten entwickelt hat, nutzen sogenannte K-Anonymität, die den Zugriff auf Personengruppen verbieten, die eine Mindestgröße unterschreiten. Das soll die Bildung von Bewegungsprofilen verhindern.

Je vernetzter eine Stadt ist, desto unmittelbarer müssen Daten vorliegen. Das ist der Kerngedanke hinter „Smart Cities“, zu denen Ilja Radusch am Fraunhofer-Institut für Offene Informationssysteme forscht. Seine Forschung liefert Erklärungen zu zentralen Fragen, die auch im Projekt „ProTrain“ noch geklärt werden müssen: Wie kann die Kommunikation mit den Fahrgästen gelingen und warum sollten sie sich auf längere oder unbekannte Wege einlassen, nur um das Gesamtsystem optimaler auszulasten?

Wenn die Zeit klar ist, warten viele freiwillig

„In unseren Umfragen fiel auf, dass Menschen durchaus Umwege in Kauf nehmen“, sagt der Leiter des Forschungsbereichs Smart Mobility. Raduschs Forschungsgruppe hat schon vor Längerem 120 Berliner und Berlinerinnen befragt. Dreiviertel waren bereit, auf einer Strecke von 30 Minuten einen zehnminütigen Umweg zu akzeptieren. „Man kann es so zusammenfassen: Menschen wollen wissen, wann sie irgendwo ankommen“, sagt der Forscher. Wenn das veranschlagte Fahrtende eingehalten wird, akzeptieren viele etwas längere Wege oder würden für eine Sitzplatzgarantie sogar einen früheren Zug nehmen.

Damit solche Vorteile für alle möglich werden, müssen die Fahrgäste darüber aber erst einmal informiert werden. Auch für dieses Problem soll im Rahmen von ProTrain eine Lösung gefunden werden. Zum Beispiel durch eine App. Gut wäre, wenn die App noch mehr könnte, zum Beispiel Anreizsysteme für ein kooperatives Verhalten schaffen, sagt Radusch: „Wenn jemand bereit ist, für das Gesamtwohl oft Umwege in Kauf zu nehmen, könnte ihm das als Punkte angerechnet werden.“ Die Punkte könnten dann eingesetzt werden, wenn man es einmal besonders eilig hat.

Im Berlin der Zukunft könnten ähnliche Systeme Daten über die Windrichtung nutzen, Autofahrer über die Süd- oder die Nordautobahn zu leiten, um die Schadstoffbelastung der Stadt möglichst gering zu halten, erklärt Radusch. Und vielleicht wissen die Wochenend-Radler dann bereits am Vorabend des Trips, wo sie am nächsten Tag in welchen Zug idealerweise einsteigen sollten.