Patientendaten in Deutschland sollen vernetzt werden
Wer nierenkrank ist, muss Tagebuch führen. Beispielsweise darüber, wie viel er wiegt, wie hoch der Blutdruck ist, wie er sich insgesamt fühlt. Ziemlich viel Arbeit, sowohl für den Patienten als auch für den Arzt, der die Protokolle später analysieren muss – doch künftig könnte das Verfahren deutlich effizienter ablaufen. Per Smartphone-App. Dazu läuft derzeit an der Berliner Charité ein Pilotprojekt, geleitet von Klemens Budde. Er will testen, wie digitale Hilfen das Leben von Transplantationspatienten verbessern können. Erste Ergebnisse zeigen: Sehr. Doch gleichzeitig tauchen Fragen dazu auf, wie sicher die sensiblen Patientendaten in der vernetzen Welt sind.
Goldgräberstimmung
„Die Patienten nehmen fünf bis zehn verschiedene Medikamente und haben mehrere behandelnde Ärzte, da verliert man schnell den Überblick“, sagt Budde. Die in der App gespeicherten Informationen könnten Patienten und Ärzten helfen, die Kontrolle zu behalten. Dadurch würden Medikations- und Behandlungsfehler vermieden und auch die Länge und Häufigkeit stationärer Behandlungen reduziert. Künftig könnte die Charité so viel Geld sparen. Allein bei den Nierenkranken bis zu 250 000 Euro pro Jahr.
Hochgerechnet auf das deutsche Gesundheitssystem könnten so bis zu 10 Milliarden Euro jährlich gespart werden, heißt es in einer Studie des Fraunhofer Instituts für System- und Innovationsforschung von 2012. Diese Potenziale lösen bei Versicherungen, Politikern und Experten der Versorgungswirtschaft eine Goldgräberstimmung aus – gäbe es nicht einen Wermutstropfen: Deutschland gehört im Vergleich zu Estland, Finnland oder Österreich beim Thema E-Health nicht gerade zu den Vorreitern. Als sich Anfang Juli Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zum Nationalen Forum für Gesundheitstelematik und Telemedizin in Berlin trafen, gab es deshalb entsprechend deutliche Kritik an der deutschen Zurückhaltung auf dem Weg hin zu einem digitaleren Gesundheitssystem.
Fragen der Kontrolle
„Die Frage ist nicht, findet Digitalisierung statt, sondern wer macht die Regeln“, sagte Nils Hellrung, dessen IT-Unternehmen aktuell Möglichkeiten für ein Kommunikationsnetz zwischen niedersächsischen Kliniken analysiert. Deutschland müsse sich beim Thema Gesundheitsdaten auch gegen internationale Angebote durchsetzen. So würden US-Konzerne mit ihren Diensten auch die deutschen Kunden adressieren. Unter E-Health fallen nicht nur Gesundheits-Apps und gespeicherte Daten, sondern auch Diagnosen und Behandlungen per Video-Schalte oder digitalisierte Rezepte. Anwendungen also, die ins Profil der Digitalkonzerne passen. „Wir diskutieren, wie wir einen Arztbrief von A nach B bekommen, während Google Milliarden investiert“, kritisierte der Gesundheitsinformatiker.
Mehr noch als auf die USA war der Blick der Experten beim Telemedizin-Forum auf die europäischen Nachbarn gerichtet. Was Finnland aus ihrer Sicht bei diesem Thema besser mache, erklärte Maritta Kohonen, Entwicklungsleiterin des finnischen Gesundheitsministeriums. Schon seit 2007 existiert in dem nordeuropäischen Land ein nationales Archiv für Arztdaten. Zentral gespeichert beinhaltet „Kanta“ Informationen über Behandlungen, Laborwerte, Krankenhausaufenthalte und Verschreibungen von knapp 90 Prozent aller Finnen. Das Portal umfasst aktuell 300 Millionen Datensätze, die mit gewissen Einschränkungen auch für die medizinische Forschung genutzt werden dürfen.
Abschreiben von Österreich
Auch in Österreich gibt es seit Ende 2015 eine elektronische Patientenakte. Darin speichern Ärzte die Befunde und verordnete Medikamente ihrer Patienten. „Wer mehr weiß, kann mehr“, sagte Clemens Auer, ein vehementer Verfechter eines vernetzten Gesundheitssystems. Momentan haben nur die Patienten selbst und ihre behandelten Ärzte Zugriff auf „ELGA“. Für Forscher und gar Pharma- oder andere Unternehmen bleiben die Krankheitsdaten der österreichischen Patienten bislang unter Verschluss. Auer, der dem Koordinationsausschuss von ELGA vorsitzt, sieht in dem System ein Vorbild für Deutschland. „Sie sollten das österreichische Gesetz einfach abschreiben“, schlug der Mitarbeiter des österreichischen Gesundheitsministeriums vor.
Hierzulande stieß die elektronische Gesundheitskarte (eGK) jahrelang auf erbitterten Widerstand vonseiten der Ärzte. Die Bundesärztekammer kritisierte besonders das Risiko einer möglichen, zentralen Datenspeicherung. Der Beschluss, Krankheitsinformationen auch über deutsche Patienten zu speichern, stammt von 2001. Erst zehn Jahre später begannen Versicherungen damit, die eGK zu verteilen. Seit Anfang 2015 muss die Karte von den Versicherten genutzt werden. Allerdings mit viel weniger Funktionen als ursprünglich geplant. Im Pflichtfach der Karte waren bislang nur die Basisdaten der Versicherten, wie Name, Anschrift oder Versichertenstatus gespeichert, nicht aber Diagnosen oder Verschreibungen. Das könnte sich bald ändern, denn in Deutschland hat sich in den vergangenen Monaten einiges getan. „Ich habe das Gefühl, dass in sechs Monaten so viel passiert ist, wie in 60 Jahren nicht“, sagte Roland Trill, Professor für E-Health an der Fachhochschule Flensburg.
Deutsche Krankenhäuser suchen Anschluss
Die weitreichenden Änderungen im Gesundheitswesen liegen am sogenannten „E-Health-Gesetz“, das der Bundestag Ende 2015 beschlossen hat. Danach müssen die erweiterten Funktionen der elektronischen Gesundheitskarte nun doch genutzt werden. Derzeit beginnt die zuständige „Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte“ (Gematik) mit dem Aufbau einer technischen Infrastruktur, an die innerhalb von zwei Jahren bundesweit Arztpraxen und Krankenhäuser flächendeckend angeschlossen werden sollen.
Doch weder wie und wo die Daten gelagert, noch welche Informationen wohin und mit wem getauscht werden sollen, ist in dem Gesetz geregelt. Klar ist aber, dass Ärzte und Patienten mehr Daten auf der elektronischen Gesundheitskarte speichern sollen. Bis 2018 soll die eGK Arztbriefe, Informationen über Medikamente und jene Daten enthalten, die der Patient zur Verfügung stellt, wie selbst gemessene Blutdruckwerte. Die Sicherheit des Systems hängt allerdings davon ab, welche Daten wie gespeichert und wem in welchem Umfang zur Verfügung gestellt werden.
Ein Drittel der Patientendaten in den USA bereits gehackt
„Eine 100-prozentige Sicherheit gibt es in der Informationstechnik nicht“, sagt Bernhard Breil, Professor für Gesundheitsinformatik an der Hochschule Niederrhein. Würden alle Informationen, wie in Finnland, zentral gespeichert, wäre die Ausbeute für potentielle Hacker größer. Aber auch Informationen, die auf vielen verschiedenen Rechnern liegen, sind nicht unbedingt geschützt. Allein in den USA brachten Hacker und Diebe seit 2009 bei verschiedenen Angriffen und Diebstählen Gesundheitsdaten von über 120 Millionen Patienten in ihren Besitz. Hochsensible Informationen von einem Drittel der US-Bevölkerung, die nun im Umlauf sind und auf einem Schwarzmarkt gehandelt werden wie Kreditkartendaten – mit dem Unterschied, dass sich ein Konto sperren lässt. Die eigenen Krankheiten oder Ergebnisse aus Genanalysen kann ein Patient hingegen nicht verändern. Das macht erpressbar, da sich auch sensible Informationen über HIV-Tests, Schwangerschaftsabbrüche und Erbkrankheiten in den Datensätzen befinden.
Beim Pilotprojekt für nierenkranke Menschen an der Berliner Charité sollen die Daten zunächst höchstens in aggregierter Form an Forscher weitergegeben werden. Das bedeutet, dass die Informationen mehrerer Patienten vor ihrer Weitergabe zusammengefasst werden. Die Daten können somit nicht mehr einzelnen Patienten zugeordnet werden. Ein darüber hinausreichender Dateneinblick für Forscher wäre zwar denkbar, erklärt Charité-Mediziner und Projektleiter Klemens Budde, darüber müssten dann aber erst die zuständigen Ethikkommissionen entscheiden.