Gesellschaftliche Grundsätze wie das Solidarprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung dürfen durch digitale Gesundheitsdienstleistungen nicht gefährdet werden, argumentiert Renate Künast. Foto: Laurence Chaperon

Gesundheits-Apps, das Ende der Solidargemeinschaft?

Gesundheits-Apps können helfen, bessere Behandlungsmethoden zu finden. Oft bezahlen Verbraucher dafür mit ihren Daten, ohne es zu wissen. Individualisierte Versicherungsmodelle könnten das Solidarprinzip aushöhlen. Ein Gastbeitrag von Renate Künast.

Im digitalen Zeitalter sind Daten und ihre Vernetzung einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren. Durch die Digitalisierung können mittlerweile ganze Infrastrukturen vernetzt und Daten auswertbar gemacht werden. Daten und Kontakte werden zu einer Währung, wenn sie nicht bloß gesammelt, sondern auch verknüpft und damit ökonomisch nutzbar gemacht werden. Darauf basieren mittlerweile nicht nur einzelne Geschäftsmodelle, sondern ganze Branchen.

Wir hinterlassen, oft ohne es zu wissen, immer und überall Datenspuren. Zu glauben, es gäbe gesellschaftliche oder wirtschaftliche Bereiche, die von der Digitalisierung und Datennutzung verschont blieben, ist illusorisch. Beispielhaft genannt seien hier der Einsatz von Apps oder Wearables (tragbare Datenverarbeitung z.B. bei Fitnessarmbändern) im Gesundheitsbereich, oder Autos als fahrende Datensammler im Verkehrsbereich.

Verbraucher bezahlen oft mit ihren Daten, ohne es zu wissen

Die Digitalisierung des Alltags schreitet voran und birgt viele Chancen, aber auch viele Risiken. Einerseits erleichtert sie den Verbrauchern das Alltagsleben, weil sie Bankgeschäfte oder Einkäufe einfach, schnell und scheinbar sicher über das Internet erledigen können. Andererseits bezahlen Verbraucher diese Vorteile häufig mit ihren Daten, was vielen nicht einmal bewusst ist, weil behauptet wird, es sei „kostenlos“.

Deshalb werden Daten mittlerweile auch als „die Währung des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. Denn durch die Digitalisierung des Alltags wissen Unternehmen so viel wie nie zuvor über ihre Kunden. Und dieses Wissen können sie als Wettbewerbsvorteil nutzen oder durch Werbeeinnahmen in bare Münze umwandeln.

Beratungsfirmen wie PricewaterhouseCoopers bieten bereits „digitale Wertschöpfungsstrategien“ an. Unternehmen sollen damit ihre Geschäftsprozesse optimieren, Profitabilität steigern, Preise dynamisch gestalten oder Marktpotenziale besser ausschöpfen können.

Was steht für die Verbraucher auf dem Spiel?

Auch der Markt für digitale Gesundheitsdienste entwickelt sich immer schneller und dynamischer. Auf dem Gesundheitsmarkt gibt es bisher vor allem reine Gesundheits-Apps, die den Bereich Fitness und Wellness abdecken. Es gibt aber auch Anwendungen, die zum Beispiel Therapien begleiten oder veranlassen.

Qualitativ hochwertige Gesundheits-Apps können sicherlich zu Innovationen, einer verbesserten gesundheitlichen Versorgung oder einer neuen Form der Selbstbestimmung von Patienten führen. Zum Beispiel wenn Diabetiker ihre Zuckerwerte regelmäßig und dauerhaft überprüfen oder Sportler ihren Puls und ihre Herzfrequenz messen können. Nutzer können auch profitieren, wenn Gesundheitsdaten gesammelt werden, um Patienten vor einem weiteren Krankheitsrisiko zu schützen oder wenn aktuellste Forschungsergebnisse passgenau einbezogen werden können. Voraussetzung ist aber, dass die digitalen Systeme fehlerfrei und sicher sind.

Zu wenige Studien über Wirksamkeit von Gesundheits-Apps

Bisher ist jedoch noch nicht bewiesen und evaluiert, ob die Menschen tatsächlich von Gesundheits-Apps profitieren. Methodisch hochwertige Studien zur Qualität, Sicherheit und Leistungsfähigkeit von medizinischen Apps liegen kaum vor.

Jede Menge offene Fragen also, insbesondere bei Datensicherheit und Datenschutz. Das fehlende Einhalten von Datenschutzbestimmungen führt zum Beispiel dazu, dass Nutzer nicht aktiv in die Nutzung ihrer Daten einwilligen bzw. diese ablehnen können. Die scheinbar kostenlose Nutzung von Gesundheits-Apps bezahlen sie dann mit ihren Daten, ohne es zu wissen. Datensicherheitsrisiken bei Gesundheits-Apps können aber auch dazu führen, dass Gesundheitsdaten gestohlen werden und in falsche Hände geraten. Das wäre verheerend.

Standards und Qualitätskriterien fehlen

Bisher fehlen noch immer einheitliche Standards und Qualitätskriterien für Gesundheits-Apps. Sie können daher auch Gesundheitsgefahren für die Nutzer bergen, wenn z.B. Messungen fehlerhaft ausfallen. So kam die Stiftung Warentest in ihrem Fitnessarmbänder-Test von Januar 2016 zu dem Ergebnis, dass es erhebliche Defizite bei Herzfrequenzmessungen gab. Insgesamt erhielten nur zwei Geräte das Testurteil GUT.

Wenn medizinisch sinnvolle Apps zum Beispiel über Therapiemaßnahmen entscheiden können, dann müssen sie daher auch einer Nutzenbewertung unterzogen, als „Medizinprodukte“ eingestuft und einer Zulassung unterworfen werden.

Bei neuen medizinischen Verfahren sollten die Hersteller deren Wirksamkeit durch Studien nachweisen. Gute medizinische Apps könnten dann auch durch Ärzte verschrieben und von Krankenversicherungen bezahlt werden.

Das drohende Ende der Solidargemeinschaft?

Mir aber liegt auch die Frage der Solidargemeinschaft am Herzen. Was bedeutet es für die Verbraucher, wenn ihre Daten genutzt werden, um Versicherungsverträge zu personalisieren? Wenn generierte Daten von Gesundheits-Apps und Fitnessarmbändern von Krankenversicherungen genutzt werden, um die Versicherungsbeiträge an das Gesundheitsverhalten der Versicherten zu koppeln?

Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland basiert im Gegensatz zu den privaten Krankenversicherungen auf dem Prinzip der Solidargemeinschaft. Die Beitragsbemessung für den Versicherungsschutz orientiert sich an der finanziellen Leistungsfähigkeit des Versicherten, nicht am persönlichen Krankheitsrisiko. Dass Versicherte im Gegenzug für das Tragen von Fitnessarmbändern das Versprechen günstiger Preise erhalten, sich aber in Wirklichkeit ungewollt „nackt“ machen, darf schon aus Datenschutzgründen nicht sein. Denn so würde das Prinzip der Solidargemeinschaft mit „Big Data“ durch die Hintertür ausgehöhlt.

Die Verbraucher müssen die Datenhoheit behalten

Die schon existierenden neuen Telematik-Tarife bei einigen privaten Krankenversicherungen, bei denen Versicherte bessere Konditionen erhalten, wenn sie Daten über ihr positives Gesundheitsverhalten preisgeben, haben durchaus nicht nur Vorteile für die Versicherten. Sie können dazu führen, dass Menschen aufgrund ihrer Risiken gar keine Versicherung oder nur zu extrem hohen Beiträgen erhalten oder dass Versicherte, die ihre Daten nicht preisgeben wollen, benachteiligt werden. Der Gesundheitsbereich ist aber nur ein Beispiel der politischen Herausforderungen, die auf uns zukommen. Das gleiche gilt auch für Autoversicherungen, wenn Fahrzeughalter je nach Fahrstil eingestuft werden und dadurch möglicherweise z.B. ältere Menschen benachteiligt werden. Oder wenn durch das Erheben von Daten für solche Versicherungstarife auch personenbezogene Bewegungsprofile der Fahrer erstellt werden.

Transparenz und ein hohes Datenschutzniveau sind oberstes Gebot bei der Digitalisierung, das gilt auch für mobile Gesundheitsdienstleistungen. Die Verbraucher müssen als Datenlieferer die Hoheit über ihre Daten behalten. Sie müssen entscheiden, wer welche Daten sammeln und auswerten darf, und sie müssen sich auf qualitativ hochwertige und sichere Angebote verlassen können. Und last but not least dürfen gesellschaftliche Grundsätze wie das Solidarprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht gefährdet werden. Eine Verknüpfung finanzieller Anreize mit einer Offenlegungsverpflichtung von Daten sollte daher in der Daseinsvorsorge verhindert werden.