Runterkommen! Viele Arbeitnehmer klagen über Rückenschmerzen. Eine App will das ändern. Eine andere bietet sogar Hilfe bei Depressionen. Foto: Getty Images/iStockphoto

Der Therapeut aus der Hosentasche

Wie zwei Berliner Startups per Smartphone Depressionen lindern und die Gesundheit am Arbeitsplatz verbessern wollen.

Als Kathrin Bermbach an der Charité psychisch Kranken Therapieplätze absagen musste, reichte es ihr. Schon im Studium waren sie und Mitstudentin Nora Blum von den oft monatelangen Wartezeiten für eine Therapie genervt. Denn gerade Patienten mit Depressionen brauchen oft schnell Hilfe - eine Mammutaufgabe, bei vier Millionen Betroffenen in Deutschland. Um Abhilfe zu schaffen, entwickelten die beiden Frauen psychologisch begleitete Onlinetherapien. Zu dritt gründeten sie letztlich ein Startup, das vergangene Woche seinen ersten Geburtstag feierte. An der Tür des Büros in Berlin-Mitte steht „Selfapy“, zusammengesetzt aus den englischen Wörtern „self“, selbst, und „therapy“, Therapie.

Experten prognostizieren digitalen Gesundheitsprogrammen im sogenannten E-Health-Segment Umsätze von knapp 400 Millionen Dollar (374 Millionen Euro) für 2017. Aber solche Angebote haben es schwer in Deutschland. Für neugegründete Unternehmen stellen strenge Datenschutzrichtlinien und das Fernbehandlungsverbot große Hindernisse dar. Auf der anderen Seite müssen die Programme meist selbst bezahlt werden. Viele Deutsche wollen oder können für Gesundheitsprogramme aber nicht selbst zahlen. Dabei könnten sie Lösungen gerade für ländliche Regionen bieten. Hier warnen Verbände schon länger vor Engpässen in der medizinischen Versorgung. Aber kann eine App wirklich einen Therapeuten ersetzen?

Im Netz soll es leichter fallen, Probleme anzusprechen

Die Gründerinnen von Selfapy wollen das gar nicht. „Wir nehmen uns nicht heraus, eine Diagnose zu erstellen“, sagt Bermbach. „Aber wir wollen die Wartezeit bis zur Therapie überbrücken, damit sich die Symptomatik bis dahin nicht verschlechtert.“ Auf der Website von Selfapy können die Betroffenen ein erstes kostenloses, telefonisches Beratungsgespräch vereinbaren. Dann wird entschieden, ob eine Online-Therapie sinnvoll ist.

"Wir wollen die Wartezeit bis zum Therapieplatz überbrücken", sagen die Gründerinnen Kathrin Bermbach, Nora Blum und Farina Schurzfeld. Foto: Selfapy

850 Betroffene nutzen mittlerweile das Angebot, das neun Wochen dauert und je nach Wunsch mit telefonischer Beratung begleitet werden kann. Merken die angestellten Psychologen in Gesprächen, dass es dem Patienten deutlich schlechter geht, können sie eingreifen. In Zusammenarbeit mit psychotherapeutischen Praxen können sie im Notfall direkt einen Therapieplatz vermitteln. Farina Schurzfeld, die Nicht-Psychologin im Gründerteam, weiß, wie schwer der Umgang mit Depression sein kann. Als jemand aus ihrer Familie erkrankte, suchte sie nach Behandlungsmöglichkeiten. „Das Stigma ist sehr groß“, sagt Schurzfeld, „viele trauen sich nicht, Probleme beim Hausarzt anzusprechen“. Im Netz fällt das manchen leichter.

So kann die Hemmschwelle sinken, sich Hilfe zu suchen. Eine erste Wirksamkeitsstudie bestätigt den Erfolg von Selfapy. Der Kurs kann die Symptome der Depression signifikant reduzieren. Die Psychologin Johanna Böttcher von der Freien Universität Berlin glaubt, dass viel Potenzial in diesen Anwendungen steckt. Manchmal könnte es ausreichen, ein begleitetes Online-Programm zu machen, um seine Ängste in den Griff zu bekommen. „Man hat sein Handy immer in der Tasche, kann also in schwierigen Zeiten immer nach dem Selbsthilfebuch greifen, sagt sie. Es sei aber wichtig, dass die Angebote wissenschaftlich von Fachleuten begleitet würden. Die Gefahr, dass sich keine therapeutische Bindung entwickelt, wenn Patient und Psychologe nur online oder telefonisch kommunizieren, sieht Böttcher nicht. Studien hätten das Gegenteil bewiesen. Inzwischen gibt es auch für andere psychische Beeinträchtigungen Online-Therapien, etwa bei sozialen Angststörungen oder Traumata.

1500 Übungen per Video

Elektronische Therapieunterstützung gibt es nicht nur in der Psychotherapie. Nur fünf Kilometer entfernt vom Selfapy-Büro, in Berlin-Kreuzberg dreht sich alles um die körperliche Gesundheit. Hier arbeitet Philip Pogoretschnik an tragbaren Gesundheitscoaches. Seine App Humanoo enthält mehr als 1500 Videos zu physiotherapeutischen Übungen und Workouts. Anhand eines 3-D-Körpermodells kann der Nutzer erst angeben, in welcher Region er Schmerzen empfindet, dann bekommt er die dazu passenden Übungen angezeigt. Bei Fragen helfen Physiotherapeuten im Live-Chat. Die App soll allmählich zum allumfassenden Life Coach werden. Mittlerweile gibt sie auch Ratschläge zum Schlafverhalten und Ernährungstipps.

Gymnastik am Arbeitsplatz. Philip Pogoretschnik hat eine Physio-App für Arbeitnehmer entwickelt. Foto: Humanoo

Den Impuls für die Idee gab vor einigen Jahren Pogoretschniks Bruder, der Physiotherapeut ist. Zu zweit begannen sie, Unternehmen in der betrieblichen Gesundheitsvorsorge zu beraten. Denn muskuläre Erkrankungen wie Rückenschmerzen zählen zu den häufigsten Ursachen für Krankschreibungen. Bald sahen sie sich vor eine Herausforderung gestellt: „Die Unternehmen wollten eine betriebliche Gesundheitsförderung für mehrere 10 000 Mitarbeiter an verschiedenen Standorten, ohne einen zusätzlichen Mehraufwand und am besten mit sehr geringen Kosten“, sagt Pogoretschnik. „Wir haben dann überlegt: Wie können wir das leisten?“ Das Ergebnis ist Humanoo.

Datenschutz-Konzepte müssen überzeugen

Experten zweifeln, inwiefern solche Fittnessanwendungen wirken. Die einen sagen, wenn kein persönlicher Kontakt mit Therapeuten erfolgt, lässt die Motivation schnell nach. Andere glauben, dass bestimmte Gruppen, etwa Übergewichtige, die Anonymität solcher Apps schätzen. Sie schämen sich oft, vor Fremden Sport zu machen. Andreas Lange unterrichtet Physiotherapie an der Fresenius-Hochschule und ist seit über 30 Jahren Therapeut. Er warnt vor der fehlenden Diagnostik: „Für unterschiedlichen Rückenschmerz gibt es ganz verschiedene Übungen“, sagt er. Ein Fachgespräch per Videoberatung kann solche Probleme auffangen - aber niemals einen Physiotherapeuten ersetzen.

Humanoo wolle das gar nicht, sagt Pogoretschnik und setzt auf die Verbindung von beidem, Online-Programmen und direkter Beratung. Sollten sich die Schmerzen verschlimmern, rät die App, mit der Übung aufzuhören. Die Anwendung funktioniert komplett anonym. „Wer keine Daten angeben will, der muss es auch nicht“, sagt Pogoretschnik. Jeder bekomme einen Anmelde-Code. Um das digitale Produkt besser zu verkaufen, verpackte er Code, einen Faszienball und Kopfhörer in Boxen, die er an Unternehmen verkauft. Seine Kunden sind zufrieden. Manuel Mandler von der Gothaer Versicherung hat 5000 Humanoo-Boxen an die Mitarbeiter verteilt. „Die meisten fanden es hipp und cool“, sagt Mandler. „Viele waren auch überrascht von dem breiten Angebot.“ Wie viele die App tatsächlich dauerhaft nutzen, kann er aber nicht sagen. In den kommenden Monaten gehen die ersten Boxen an Berliner Unternehmen. Private Nutzer können ein monatliches Abo abschließen.

Der Kurs bei Selfapy kostet den Nutzer derweil 49,90 Euro ohne Begleitung, 149,90 Euro mit Therapiegesprächen. Und die Krankenkassen? „Das dauert lange“, sagt Bermbach. Gemeinsam mit einer externen Datenschutz-Firma arbeiten sie an Zertifizierungen für eine solche Zusammenarbeit. Auch Humanoo verhandelt bereits mit den Kassen. Die große Herausforderung für E-Health-Unternehmen bleibt der Datenschutz. Sie müssen nicht nur die Kassen überzeugen, sondern auch dem Nutzer verständlich machen, dass ihre Daten sicher sind. Schaffen sie beides, könnten wir die digitalen Therapeuten für die Hosentasche auf Rezept beim Hausarzt bekommen.