Digitale Hoffnung auf analoge Heilung
Wer mit den Zähnen knirscht, aber alleine schläft, hat ein Problem: Er wird von seiner nächtlichen Aktivität erst erfahren, wenn ihn sein Zahnarzt darauf hinweist. Der Zahnschmelz ist dann allerdings oft schon irreparabel angegriffen. Vier von fünf Menschen knirschen im Laufe des Lebens zeitweise mit den Zähnen. Ihnen wollten Tim Seithe, 24, und Medizinstudent an der Freien Universität Berlin, und Gesundheitsökonom Alexander Puschilov, 28, mit einer App helfen, die nachts mögliche Knirschgeräusche aufzeichnet. Doch schnell merkten die beiden, wie schwer es ist, Studienteilnehmer für den Test der App zu finden - und entwickelten aus diesem Problem heraus eine neue Geschäftsidee.
Viomedo heißt ihr Portal, mit dem sie Kliniken, Pharmafirmen und Patienten schneller zusammenbringen wollen. „Während Ärzte und Pharmafirmen Probleme haben, Studienteilnehmer zu finden, wünschen sich viele Menschen mit schweren Krankheiten, dass sie möglichst früh neue Medikamente testen dürfen“, erklärt Seithe. Denn bis ein neues Medikament auf dem Markt ist, könne es für die Patienten zu spät sein.
Neues Denken unter altem Dach
Im Februar 2015 haben sie ihr Unternehmen mit Sitz in Berlin gegründet, seit August arbeiten sie unter dem Dach des Bayer Accelerators Grants4App. Das Pharmaunternehmen fördert mit dem 2014 gestarteten Programm Entwickler und Startups aus dem Gesundheitssektor. Sieben junge Unternehmen dürfen mietfrei Büroräume am Hauptsitz von Bayers Pharmazieabteilung in Wedding nutzen, wo derzeit 4500 Mitarbeiter beschäftigt sind. Dazu erhalten sie jeweils bis zu 50 000 Euro und werden von internen wie externen Mentoren beraten. Im Gegenzug bekommt das 1863 gegründete Unternehmen Einblick in neue Technologien.
Noch entwickelt sich der Bereich Digital Health eher langsam. Nur 0,9 Prozent der deutschen Startups bewegen sich in diesem Feld, heißt es in einer kürzlich veröffentlichten Studie des Bundesverbands Deutscher Startups und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG.
Nach Studien suchen per Postleitzahl
Viomedo, zu dem neben Seithe und Puschilov auch noch Stefan Nietert, 33, gehört, sieht vor allem in der direkten Vernetzung von Forschern und Patienten einen Markt. Die Kommunikation zwischen kranken Menschen und Kliniken scheitert aus ihrer Sicht bisher vor allem an zwei Punkten: Kranke Menschen würden oft nicht wissen, welche Studien es gerade in ihrer Nähe gibt, die für sie infrage kommen. Und wenn sie auf Studienausschreibungen stoßen würden, seien diese oft schwer verständlich formuliert.
Auf Viomedo.de kann der Nutzer deshalb seine Krankheit und seine Postleitzahl eingeben, dann werden ihm aktuelle Studien in der Umgebung angezeigt, die noch nach Probanden suchen. Für die Auswahl der Studien greift Viomedo vor allem auf offen zugängliche Daten zurück, beispielsweise auf das Deutsche Register für klinische Studien. Damit die Studienbeschreibungen leichter verständlich sind, sucht ein Algorithmus darin nach medizinischen Fachbegriffen und erklärt diese verständlicher. Dafür haben die Gründer mit Patientenorganisationen wie der Deutschen Alzheimer Gesellschaft oder der Plattform „Jung und Parkinson“ gemeinsam einen Leitfaden entwickelt.
Während Patienten die Seiten kostenlos nutzen, bezahlen die forschenden Kliniken und Pharmaunternehmen Viomedo dafür, dass ihre Studien noch verständlicher gemacht werden. Dazu entwickeln die Gründer jeweils Fragen, durch die sich die Interessenten klicken, um sicher zu stellen, dass sie auch wirklich als Probanden infrage kommen. Der zuständige Studienarzt bekommt anschließend eine Mail und kontaktiert seine potentiellen Probanden. Für jeden vermittelten Teilnehmer bekommt Viomedo eine Provision. Mehr als 10 000 Patienten hätten auf Viomedo bereits nach Studien gesucht, mehr als 1000 Probanden seien vermittelt worden, erzählt Puschilov. Mit fünf großen Pharmafirmen arbeite Viomedo bereits zusammen. Bis Ende des Jahres will er „einen guten sechsstelligen Umsatz“ machen.
Bayer will von Startups lernen
Kannibalisiert sich Bayer aber nicht am Ende selbst, wenn es mit der Förderung von Viomedo auch der Konkurrenz die Durchführung von klinischen Studien erleichtert? „Nein“, sagt Puschilov. Würde jedes einzelne Pharmaunternehmen eine Website aufbauen, müssten sich die Patienten durch all diese Seiten klicken. Deshalb brauche es als Mittler eine zentrale Plattform wie Viomedo.
Sebastian Guth, Leiter für Strategisches Marketing bei Bayer, hat die Gründer als Mentor beraten, mit ihnen beispielsweise über potenzielle Kunden, und die Preisgestaltung gesprochen. Auch Bayer profitiere von der Zusammenarbeit mit Startups. Es sei interessant zu erleben, dass die jungen Unternehmen in kürzeren Entwicklungszyklen denken, und dass sie wissen, dass es keine 100-Prozent-Lösung gibt: „In einigen - nicht allen - Bereichen könnten wir aus meiner Sicht auch mehr wagen und mehr ausprobieren“, sagt Guth.
Internetmedizin als Machtgewinn für den Patienten
Sebastian Vorberg, Anwalt für Medizinrecht und Vorsitzender des deutschen Verbands für Internetmedizin, sieht Viomedo als Beispiel für eine größere Umwälzung im Gesundheitssektor. „Das klassische Medizinsegment ist ja sehr analog“, sagt er. „Vor allem krankt das Gesundheitssystem daran, dass der Patient bislang so wenig involviert ist.“ Genau das ändere sich mit der Internetmedizin.
Was aber bedeutet es für ethische Normen wie das ärztliche Schweigegebot, wenn plötzlich das Internet zwischen Arzt, Patient und Pharmaunternehmen hängt? „Wenn Patienten im Internet nach klinischen Studien suchen, dann haben sie das selbst entschieden“, betont Vorberg. Die Chancen dabei seien größer als die Datenschutzprobleme. Im Fall von Viomedo eben dadurch, dass chronisch Kranke proaktiv nach Studien suchen, an denen sie teilnehmen können. Dass sich solche Anwendungen nun anfangen durchzusetzen, macht Vorberg vor allem an dem steigenden Mitgliederzuwachs fest, den er aktuell verzeichnet. Und daran, dass Krankenkassen langsam anfangen würden, derlei Angebote in ihre Portfolien aufzunehmen.
Fehlende Standards und digitale Nebenwirkungen
Ganz so einfach ist das mit dem Datenschutz dann aber doch nicht. Wenn ein Patient beispielsweise eine schwere Krankheit und seine Postleitzahl bei Viomedo eingibt, dann wird das auf der Website gespeichert, bestätigt auch Puschilov. Diese Datenbank sei zwar derzeit nicht Teil des Geschäftsmodells. Aber die Information, in welchen Stadtteilen Menschen mit schweren Krankheiten nach möglichen Studien suchen, dürfte Kunden durchaus interessieren. Für solche Online-Angebote müssen die gleichen Verschwiegenheitsregelungen gelten wie in der Offline-Medizin, betont Maja Smoltczyk, Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit. Vor allem müssten Patienten nachvollziehen können, was mit ihren Daten geschieht, um gegebenenfalls steuernd einzugreifen. Dazu seien die Anbieter solcher digitalen Gesundheitsangebote verpflichtet. Doch in der Praxis ist es nicht immer so leicht zu verstehen, wo und für welche Zwecke personenbezogene Daten verwendet werden.
Frank Wissing, Generalsekretär beim Medizinischen Fakultätentag verweist noch auf ein anderes Risiko im Angebot von Viomedo: Zwar sei ein solches Portal als zusätzlicher Informationskanal für den Erstkontakt mit potentiellen Studienteilnehmern durchaus geeignet. „Einige der dort aufgeführten Studien scheinen jedoch sogenannte Anwendungsbeobachtungsstudien zu sein“, merkt Wissing an. Dabei werden Patienten bei der Einnahme von bereits zugelassenen Medikamenten im Rahmen der üblichen Versorgung beobachtet. Solche Studien gelten als höchst umstritten. Alleine 2014 haben 12 000 niedergelassene Ärzte an solchen Studien teilgenommen, wie eine Recherche des Journalistenkollektivs Correctiv, der „Süddeutschen Zeitung“ und dem WDR kürzlich berichtete. Rund 100 Millionen Euro verteilten Pharmaunternehmen auf diese Weise jährlich an Ärzte.
Viomedo sei noch unsicher, wie genau mit diesen wissenschaftlich bedeutungslosen Studien künftig umgegangen werde, sagt Puschilov. Aus Transparenzgründen seien sie derzeit im Angebot behalten worden.
Viomedo will bald das Bayer-Nest verlassen und eigene Büros beziehen. „Wir verhandeln derzeit aber über eine weitere Zusammenarbeit“, erklärt Puschilov. Eine App gegen Zähneknirschen will er nicht mehr entwickeln. „Das haben inzwischen andere Firmen gemacht.“ Er habe aber noch andere Ideen - an der Suche nach Probanden dürften sie zumindest nicht mehr scheitern.
Lesen Sie hier auch den Gastbeitrag von Renate Künast zum Thema Gesundheits-Apps und Datenschutz