DIY-Königreich. DaWanda verkauft online Selbstgemachtes. Foto: Thilo Rückeis.

Niedliches Imperium

Vor zehn Jahren hat Claudia Helming DaWanda gegründet, ein Online-Portal für Selbstgemachtes. Heute sind dort fast sieben Millionen Nutzer registriert

Eigentlich wird das Problem ja schon im Kindergarten sichtbar: Die einen malen und basteln voller Hingabe und kommen mit schönen Geschenken nach Hause. Die anderen geben sich genauso viel Mühe, aber ihre Bilder, Laternen oder Kastanienmännchen sehen einfach nicht so hübsch aus.

Claudia Helming ist Anfang 30, als sie sich in einer ähnlichen Situation befindet: Es ist 2005, kurz vor Weihnachten, Helming lebt aus beruflichen Gründen in Moskau und findet dort keine schönen Geschenke für ihre Verwandten und Freunde. Der Versuch, russische Matroschkas dekorativ anzumalen, scheitert ebenfalls. Doch die Situation hat auch ihr Gutes, sie bringt die gescheiterte Bastlerin auf die Idee, einen deutschen Online-Marktplatz für Selbstgemachtes aufzubauen. Ein paar Monate zuvor ist in den USA ein ähnliches Portal an den Start gegangen, das den Fantasie-Namen Etsy trägt.

Der Herstellerinnen-Schwarm

Claudia Helming beginnt mit der Planung, sie weiß von Anfang an: Das Unternehmen soll in Berlin sitzen. Sie erstellt Listen mit möglichen Händlern, die sie in ihr Portal aufnehmen könnte – eine mühsame Arbeit. Für die technische Umsetzung holt sie ihren ehemaligen Kollegen Michael Pütz dazu. »Am 3. Dezember 2006 sind wir live gegangen«, erinnert sie sich. Die 42-Jährige sitzt in einem kleinen Besprechungsraum im großen Hauptquartier von DaWanda in Charlottenburg, ein paar Schritte vom Stuttgarter Platz entfernt. Die Räume sind groß und sehr weitläufig, im Erdgeschoss hat ihr Team einen Concept Store eingerichtet, in dem offline zu sehen ist, was sonst online verkauft wird.

Der Name DaWanda kommt aus dem Afrikanischen, er bedeutet »Die Einzigartige« und ist natürlich Programm. Doch in Helmings Umfeld reagieren viele Menschen zunächst skeptisch auf das Projekt. Wer sollte auf die Idee kommen, Selbstgemachtes im Internet zu kaufen oder zu verkaufen, wenn man sich dort doch auch maschinell produzierte Produkte bestellen kann? 2016 lässt sich diese Frage folgendermaßen beantworten: Bei DaWanda sind fast sieben Millionen Nutzer registriert, knapp sechs Millionen Produkte und 360.000 Hersteller. Alle 60 Sekunden wird eine Tasche verkauft, alle 30 ein Produkt für Baby und Kind, alle 20 ein Schmuckstück.

»Wir waren eigentlich zu früh dran«

Hineingewachsen. DaWanda-Chefin Claudia Helming hat Durchhaltevermögen. Foto: Thilo Rückeis

Die Vielfalt des Angebots, etwa Schlafsäcke in Form eines Fischschwanzes, überrascht auch Helming immer wieder. Die am häufigsten verwendeten Suchbegriffe auf der Webseite sind Schnittmuster, Schnullerkette und Wickeltasche, gefolgt von Hochzeit und Adventskalender. DaWanda ist in sieben Sprachen abrufbar, in Straßburg, Warschau und Madrid unterhält das Unternehmen eigene Büros.

»Wir waren eigentlich zu früh dran«, sagt Claudia Helming rückblickend. Der Handarbeitsbereich sei eine absolute Nische gewesen. Andererseits habe sie 2006 genügend Zeit gehabt, um in Ruhe in ihre Aufgabe hineinzuwachsen. Durch die Erfolge der Samwer-Brüder und der Szene rund um Rocket Internet müsse ein Online-Unternehmen heute sehr viel schneller erfolgreich sein.

Ruhe statt “fail fast”

Claudia Helming scheint für diese Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hat, die richtigen Eigenschaften mitzubringen. Sie wirkt bodenständig, ist auf eine unaufdringliche Art selbstbewusst und strahlt eine große Ruhe aus. Und ist damit das Gegenteil jener Internet-Unternehmer, die unruhig von Projekt zu Projekt springen und beim Aufbau eines neuen Unternehmens schon wieder von dessen Verkauf träumen.

Helming stammt aus Marktl am Inn, einer kleinen Stadt an der Grenze zu Österreich, die als Geburtsort des ehemaligen Papstes Benedikt XVI. bekannt geworden ist. Nach dem Abitur studiert sie Romanistik und Tourismus und beginnt, in der Internetbranche zu arbeiten, unter anderem bei dem Online-Reiseanbieter lastminute.de.

80 Prozent Frauenanteil

Im Februar 2007 steigt Holtzbrinck Ventures als Investor bei DaWanda ein, das Unternehmen gewinnt schnell die ersten Branchenpreise. Richtig ernstgenommen fühlt sich Helming trotzdem erst nach drei Jahren. Dass ihr Portal anfangs belächelt wird, hat möglicherweise auch mit der Optik zu tun: den Herzchen, die die Nutzer vergeben können, und den vielen Produkten für Kinder. Doch genau diese Ästhetik spricht die vorwiegend weiblichen Nutzer – 94 Prozent der Käufer und 80 Prozent der Hersteller sind Frauen – an, sie trifft den Zeitgeist, weil sie die Sehnsucht nach etwas, das mit den eigenen Händen hergestellt wurde und das es so nur einmal gibt, widerspiegelt. Mit Naivität hat diese Form der Niedlichkeit nichts zu tun. Produkte kommen und gehen, neue Investoren steigen ein, DaWanda wächst weiter, 2012 dann plötzlich sehr schnell, innerhalb weniger Monate steigt die Mitarbeiterzahl von 50 auf 150. »Bis zu diesem Zeitpunkt waren wir eine überschaubare Einheit und hatten alles im Blick«, sagt Helming. 2013 folgen die ersten Entlassungen, rund sieben Prozent der Mitarbeiter müssen gehen. Heute heißt der Mehrheitsinvestor Insight Venture Partners, und es sind insgesamt 200 Menschen bei DaWanda beschäftigt. Die meisten, die an diesem Vormittag über die Etage laufen, sind unter 30.

Neben einer Einstellgebühr von einigen Cents verdient DaWanda fünf Prozent am Verkaufspreis, beim Mitbewerber Etsy, der seit 2011 auch eine deutsche Seite hat, sind es 3,5 Prozent. Seit einigen Monaten kümmert sich auch Amazon mit einer deutschsprachigen Seite um »Kunsthandwerker« – und nimmt zwölf Prozent vom Verkaufshonorar.

Aufbruch nach Asien?

Im Unterschied zu Etsy dürfen die Firmen, die über DaWanda verkaufen, so viele Mitarbeiter haben, wie sie möchten. Jeder Vierte, der auf dem Portal registriert ist, kann durch die Aufträge seinen Lebensunterhalt bestreiten – und dabei oft von zu Hause arbeiten, was es einfacher macht, den Job mit der Familie zu kombinieren. Wie geht es weiter? Helmings Co-Geschäftsführer Michael Pütz ist vor ein paar Monaten aus privaten Gründen aus dem Unternehmen ausgestiegen. Sie leitet das Unternehmen nun gemeinsam mit Niels Nüssler und macht nicht den Eindruck, als ob sich das bald ändern würde. »Es gibt sicherlich Projekte, die lukrativer oder einfacher zu stemmen wären als dieses Portal, aber so schön wie das DaWanda-Business wird es nie wieder.«

Und schließlich gebe es noch so viel zu tun: Helming spricht von neuen technischen Herausforderungen, zusätzlichen Bezahlsystemen und einer weiteren Internationalisierung, vielleicht irgendwann auch in Richtung Asien. Und auch den Bereich der »DIY-Anleitungen« – also die Veröffentlichung der Bastel-, Bau- oder Nähanleitungen – will sie weiter vorantreiben. Denn nicht alle, die bei DaWanda kaufen, sind handwerklich unbegabt. Viele suchen dort nach Inspirationen, nach Dingen, die sie nachbauen können. »Verkäufer, die kostenlos die Anleitungen zu ihren Artikeln veröffentlichen, verkaufen viel, viel mehr«, sagt die 42-Jährige. Wahrscheinlich, weil es immer noch mehr Spaß macht, Dinge selbst zu machen, als sie online zu kaufen – vorausgesetzt, man hat die Begabung dazu.