Das Ende des Haustürschlüssels
Claudia Nagel wird immer unruhiger, aber nein, kein Zweifel: Sie hat die Kerzen auf dem Küchentisch nicht ausgepustet. Umkehren wäre jetzt aber richtig blöd, mehrere hundert Kilometer ist sie schon auf der Autobahn unterwegs – brennt das Haus ab, wäre das allerdings noch blöder. Trotzdem dreht Nagel nicht um, sie bittet eine Nachbarin nachzusehen. Die hat zwar keinen Schlüssel, Claudia Nagel aber ein smartes Schloss. Über ihr Smartphone öffnet sie der Nachbarin die Tür, wenige Klicks, und sie ist drin.
Letzte Bastion Haustür
Kiwi heißt dieses schlüssellose System, nicht wegen der Frucht, sondern „Ki“ ist abgeleitet vom englischen „Key“ für Schlüssel, „wi“ von Wireless Technology, kabelloses Netz. 2012 hat Nagel die gleichnamige Firma zusammen mit zwei weiteren Partnern in Berlin gegründet, heute arbeiten sie mit ihrem 50-köpfigen Team im Gründerzentrum in der Wattstraße in Wedding daran, das Schlüsselmanagement zu revolutionieren. Nachdem Kaffeemaschine und Kühlschrank schon vernetzt sind, wird nun die Haus- und Wohnungstür digitalisiert. Dass das erst jetzt passieren soll, ist allerdings verwunderlich. Schließlich ist es im Alltag längst üblich, Hotelzimmer oder Bürotüren per Chipkarte oder Transponder zu öffnen, auch beim Auto würde niemand mehr auf die Idee kommen, einen Schlüssel ins Schloss fummeln zu wollen.
Warum dann aber diese Zurückhaltung bei der Haustür? Es ist nicht allein die Angst vor Einbrechern, die womöglich das System hacken und sich so Zugang verschaffen. Sondern vor allem auch die Gewohnheit: 3000 vor Christus wurden Schloss und Schlüssel erfunden – und am Grundprinzip hat sich wenig geändert.
Doch in Zeiten, in denen sich das halbe Leben per Smartphone steuern lässt, wirkt es wenig zeitgemäß, immer noch Tonnen von Metall mit sich rumzuschleppen, ewig auf den Lieferdienst oder den Handwerker zu warten, der sich zwischen acht und 18 Uhr angekündigt hat. Andersherum ist es für Postboten, die Müllabfuhr, Fahrstuhl- oder Hausmeisterdienste ein Fluch, immer den passenden Schlüssel zum jeweiligen Mehrfamilienhaus parat zu haben.
Die Amazon-Lösung
Wie Kiwi gibt es deshalb immer mehr Anbieter sogenannter Smart Locker, vernetzter Schlüssel. Lieber heute als morgen würden damit vor allem Zustelldienste alle Türen ausgestattet sehen. Denn sie verlieren enorm viel Geld, wenn sie eine Lieferung nicht beim ersten Zustellversuch abgeben, diese lagern und erneut zum Kunden bringen müssen. Online-Händler Amazon hat deshalb ein System namens Amazon Key entwickelt, das ein smartes Türschloss, eine vernetzte Sicherheitskamera und App beinhaltet. Der Lieferant kann, wenn niemand zu Hause ist, über einen verschlüsselten Authentifizierungsprozess den Zugang zur Wohnung anfordern und das Paket selbst in der Wohnung abstellen – die Kamera soll festhalten, dass er andere Dinge nicht unaufgefordert retour nimmt. Das Angebot ist vorerst nur in den USA verfügbar.
Dafür probieren andere Liefer- und Servicedienste in Berlin bereits Systeme wie Kiwi oder den österreichischen Wettbewerber Nuki aus, vorerst werden die Pakete aber nur vor der Wohnungstür, nicht dahinter, zugestellt. Für beide Systeme müssen die Türen umgerüstet werden, sie sind sowohl per Transponder als auch vom Smartphone per App zu steuern. Über Funktechnik lässt sich die Tür mit dem Transponder automatisch aus einer Entfernung von drei Metern entriegeln. Auch das lästige Kramen nach dem Schlüssel – übrigens die Situation, in der Nagel auf die Idee für Kiwi kam – fällt damit weg.
Berliner Wohnungsgesellschaft stattet alle Mehrfamilienhäuser mit digitalen Schlüsseln aus
Die Berliner Wohnungsgesellschaft Deutsche Wohnen stattet nun alle 18.000 Mehrfamilienhäuser mit Kiwi aus und ist auch Investor. Wie viel Geld die Wohnungsbaugesellschaft in Kiwi gesteckt hat, teilen beide Seiten nicht mit. Mitte 2019 soll Kiwi, zu dessen Kunden auch die Wohnungsbaugesellschaften wie Vonovia und Degewo gehören, profitabel werden. Auch der Entsorger Alba, Berlin Recycling und die Deutsche Post nutzen das System des Startups aus Berlin.
Für Vermieter rüstet Kiwi die Türen kostenlos um, bezahlt wird dann im Abo-Modell, 3,80 Euro pro Tür pro Monat – diese Kosten auf die Betriebskosten aufzuschlagen, sei rechtlich möglich, wenn der Mieter einverstanden sei. Das Nuki Smart Lock ist ab 229 Euro zu haben. Wie berechtigt ist aber die Angst vorm Einbrecher, der sich ins System hackt und in die Wohnung kommt? „Es ist ein Irrglaube, dass ein klassischer Schlüssel sicherer ist als der Transponder“, betont Nagel. „Wenn ein Schlüssel irgendwo rumliegt, kann jemand ein Foto davon machen und in einem 3-D-Drucker nachbauen.“ Kiwi habe sein System zusammen mit Hackern entwickelt und die Verschlüsselungstechnologie zum Patent angemeldet. Welcher Mieter wann welche Tür öffne, werde nicht gespeichert. Bei Verlust des Transponders stehe ein Notdienst zu Verfügung. Auch Nuki setzt auf Ende-zu-Ende-Verschlüsselung.
Zeit für Menschen
Interessant sind smarte Schlüsselsysteme insbesondere auch für Pflegedienste. Das Management der Schlüssel, die erst anonymisiert und nach jedem Einsatz wieder im Schlüsselkasten sortiert werden müssten, koste enorm viel Zeit, die dann bei der Pflege am Menschen fehle, erklärt Bruno Malangre vom Caritasverband in Köln. Oft müssten Pfleger auch spontan zu einem Kunden, vorher aber dann erst den Schlüssel holen. Die Caritas teste deshalb verschiedene Anbieter schlüsselloser Türsysteme, um effizienter, vor allem mehr am Menschen und weniger am Schlüsselkasten zu sein.
Ganz verzichtet werden muss auf den Metallschlüssel aber nicht. Er kann neben dem Transponder weiter genutzt werden – dann aber kommt die Nachbarin nicht mehr so schnell rein.