Das Ende des Papierkriegs
Die Waffe von Jan Deepen ist unscheinbar. Äußerlich unterscheidet sich der kleine graue Kasten nicht von gewöhnlichen Geräten zum Scannen und Drucken. „Aber er kostet so viel wie ein Mittelklassewagen“, sagt Deepen, Gründer des Berliner Start- ups Zeitgold. Denn das Kodak-Gerät scannt 120 Blätter pro Minute in Topqualität. In dieser Geschwindigkeit beseitigt Zeitgold den Papierkram seiner Kunden. Deepen öffnet eine Klappe und zeigt stolz auf die Rollen, mit denen das Papier eingezogen wird. Sie liegen nur einen halben Zentimeter auseinander, betont der Gründer. Dadurch erwische der Scanner auch schmale Belege, wie die in osteuropäischen Ländern verbreiteten streifenförmigen Taxiquittungen.
Die Munition für seinen Scanner bekommt Deepen in grauen Boxen von der Größe eines Schuhkartons. Darin sammeln seine Kunden ihre Rechnungen und Belege. Dann werden sie in der Rosa-Luxemburg-Straße vollständig digitalisiert. Sortieren und Abheften fällt weg. Das eigentliche Geheimnis des Scanners ist die Software dahinter. Programmiert wird sie von israelischen Spezialisten für Künstliche Intelligenz. Gerade hat Zeitgold ein Entwicklungszentrum in Tel Aviv eröffnet. Mitgründer Kobi Eldar hat zuvor eine Cyber-Security-Einheit des Militärs geleitet. Nun bekämpft er die Papierflut.
Künstliche Intelligenz statt unbezahlter Rechnungen
„Unsere Algorithmen verstehen, was auf den Dokumenten steht“, sagt Deepen. Per Texterkennung werden die Rechnungen ausgelesen, dann in zehn bis dreißig Felder zerlegt. Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz trainiert Zeitgold sein System, damit es identifizieren kann, wie die Rechnungsnummer lautet, wie hoch der fällige Betrag ist oder welche Steuer anfällt. So wird automatisch ein Großteil der Buchhaltung erledigt.
Und ihre Software kann noch mehr: Deepen zückt sein Smartphone und öffnet die Zeitgold-App. Als neuestes Dokument wird ihm der Spesenbeleg einer Mitarbeiterin angezeigt, die Nachschub an Toilettenpapier bestellt hat. Mit einem Fingertipp zahlt er den fälligen Betrag. Vor allem diese Option nutzen viele Kunden. „Zuerst legen sie meist nur die bezahlten Rechnungen in die Box“, sagt Deepen. Doch wenn sie erst einmal gemerkt haben, dass das Programm auch unbezahlte Rechnungen verarbeitet und zur Zahlung vorbereitet, überlassen sie das Übertragen von IBAN-Nummern der Software.
Vor allem jüngere Steuerberater treiben die Entwicklung voran
Buchhaltung und Steuerberatung waren Bereiche, die bislang von der Digitalisierung noch weniger erfasst wurden, wie andere Branchen. Doch jetzt schicken sich gleich mehrere Startups an, das zu ändern. Und auch Investoren haben den neuen Markt entdeckt. Rocket Internet und Cherry Ventures haben in das Potsdamer Startup Smacc investiert. Das Berliner Team Candis hat in diesem Jahr schon zwei Mal Geld bekommen, unter anderem von der Investitionsbank Berlin und einer Tochter der Commerzbank. Vor allem jüngere Steuerberater, die nun Kanzleien übernehmen oder gründen, treiben die Entwicklung voran. So wie Stefan Langowski. Er und sein Partner sind beide unter 40, in ihrer Friedrichshainer Kanzlei Tilango wollen sie die für Steuerberater so typischen Ordner möglichst bald loswerden. „Unser Ziel ist es, in einem papierlosen Büro zu arbeiten“, sagt Langowski. Am liebsten wäre er schon in zwei Jahren soweit, räumt aber ein, dass es auch noch fünf Jahre dauern könne.
Der Steuerberater setzt dabei auf die Software von Candis. Die Berliner entwickeln ein ähnliches Programm wie Zeitgold, Langowski empfiehlt es sogar seinen Mandanten. Eigentlich ist das irrational, schließlich übernehmen bislang Steuerberater oft die Buchhaltung und lassen sich das Abtippen und Sortieren von Dokumenten bezahlen. Doch Langowski verzichtet darauf. „Die Buchhaltung wird irgendwann sowieso weitgehend automatisch laufen“, sagt er. Die Arbeitsteilung hat für ihn noch mehr Vorteile. Da die Software auch mit Bankkonten verknüpft ist und die Rechnungen den zugehörigen Zahlungen zuordnet, erkennt das Programm, wo noch Dokumente fehlen und weist daraufhin. „Dadurch bekommen wir vollständige Unterlagen und müssen nicht fehlenden Belegen hinterher telefonieren“, sagt Langowski. Und da seine Mitarbeiter auch weniger Zeit investieren müssen, wenn ein großer Teil der Buchhaltung schon digital vorbereitet ist, können sie mehr Mandanten betreuen. Unterm Strich erziele er dadurch mehr Umsatz. Die Macher von Candis haben gerade ein neues Büro unweit vom S-Bahnhof Prenzlauer Allee bezogen. Sie sitzen im Dachgeschoss eines Berliner Mietshauses, vor der Tür stehen noch die Farbeimer.
Schnelle Schnittstelle zum Steuerberater
An diesem Mittwochmorgen gibt es ein Problem: Das Internet ist ausgefallen. Einige Programmierer gehen gleich wieder, um von zu Hause zu arbeiten. Andere benutzen ihre Smartphones als WLAN-Hotspot. So auch Candis-Gründer Christian Ritosek. Er loggt sich in das eigene Programm ein und hat sofort einen Überblick über die laufenden Finanzen: Rechnungen für Online-Marketing oder Serverkosten, 19 davon sind noch offen. Auf Knopfdruck kann er den Bezahlvorgang starten. „Man muss keine Zahlen mehr abtippen“, sagt Ritosek.
Zudem können Candis-Nutzer ihre Finanzdaten ganz einfach an ihre Steuerberater schicken. Denn seit Mai ist das Startup über eine Schnittstelle direkt an die Software der Datev angeschlossen, mit der fast alle Steuerberater ihre Abschlüsse erstellen. Candis will damit gegenüber den Wettbewerbern punkten. Denn Zeitgold beispielsweise arbeitet nur mit einer handvoll ausgewählter Steuerberater zusammen.
Mit echten Buchhaltern hat es nicht geklappt
Was bei den neuen Computerbuchhaltern schief gehen kann, zeigt das Beispiel der Firma Albus White. „Was Slack für die Kommunikation ist, wollen wir für die Buchhaltung werden“, hatte Gründer Niklas Grunewald vor einem Jahr angekündigt. Doch der Vergleich mit Slack, über das Startups vom Silicon Valley bis Berlin heute einen Großteil ihrer internen Kommunikation abwickeln, war offensichtlich eine Nummer zu groß. Obwohl Albus White im Netz weiter mit seinem Service wirbt, haben die Berliner ihre Dienste offenbar schon seit längerer Zeit eingestellt. „Wir haben wochenlang niemanden ans Telefon bekommen, es war ein Albtraum“, sagt der Gründer eines Essenslieferdienstes, der Albus White genutzt hatte. Trotzdem glaubt er weiter an die Grundidee einer digitalen Buchhaltung und ist zu Candis gewechselt.
Im Gegensatz zu anderen Startups hatte Albus White neben einer modernen Software noch sehr stark auf den Einsatz von echten Buchhaltern gesetzt. Nach Einschätzung von Branchenkennern hat das nicht funktioniert. Das Unternehmen hat sich auf Anfrage dazu nicht geäußert.
Menschen-Trainer für Maschinen
Ganz ohne Menschen funktioniert aber auch das System von Zeitgold nicht. Nachdem die Dokumente die Scanstation durchlaufen haben, landen die digitalen Versionen auf Bildschirmen der Mitarbeiter drei Stockwerke tiefer. Eine Mitarbeiterin bearbeitet gerade Krankenkassenschreiben. Rechts auf dem Bildschirm sind die gescannten Briefe zu sehen, links daneben verschiedene Felder, in die sie Beiträge, Mitgliedsnummern und andere Angaben kopiert. So wird der Algorithmus trainiert, die Dokumente künftig selbst zu verstehen.
Genauso bei den Hotelrechnungen, die eine Mitarbeiterin eine Reihe weiter bearbeitet. Sie hat nur noch ein Feld, in dem sie immer wieder bestätigen muss, das es sich um Ausgangsrechnungen handelt. Einmal fehlt eine Adresse. Ansonsten hat die Software gelernt, die Dokumente vollständig selbstständig auszulesen.
Die letzten Hürden: Bürokratie und Post-its
Ein paar Hürden bleiben aber vorerst. Beispielsweise wenn etwas per Hand ergänzt wurde. Oder wenn irgendwo ein Post-it klebt und möglicherweise andere Informationen verdeckt. „Der Mensch wird noch lange benötigt“, ist auch Deepen überzeugt. Gerade wenn es um knifflige steuerliche Fragen geht. Ein Klassiker ist beispielsweise der Großeinkauf bei der Metro, wo Restaurants oder Läden zum großen Teil Waren auf der Rechnung kaufen, die sie verarbeiten oder weiterverkaufen. Aber eben auch Investitionsgüter wie einen neuen Kühlschrank oder andere Geräte, die steuerlich ganz anders behandelt werden müssen. Dies zu erkennen ist auch für die cleversten Algorithmen noch eine Nummer zu hoch.
Ganz ohne Papier geht es bei Zeitgold auch nicht: Das Startup verbraucht täglich dutzende braune Briefumschläge. Darin landen die gescannten Belege und kommen in ein Lager. Denn ab und an will doch noch mal jemand die Quittung im Original sehen. Zumindest müssen sie nicht mehr in Ordnern abgeheftet werden – denn die Software weiß, in welchem Umschlag und welcher Kiste jedes Dokument steckt.