Singularity: Erst Mensch gegen Mensch, dann Mensch gegen Maschine
Anish Mohammed steht im Kreuzberger Betahaus vor 150 Zuschauern auf der Bühne. Hinter dem Bioinformatiker prangt ein Zitat des Science-Fiction-Autors William Gibson: „Die Zukunft ist schon da, sie ist nur noch nicht gleichmäßig verteilt.“ Den Satz könnte man als das Mantra der Technikbegeisterten bezeichnen, die sich an einem Donnerstagabend in der vierten Etage des bekannten Berliner Coworking Space versammelt haben.
Mit einem Diagramm zeigt Mohammed, von welcher Zukunft er spricht. Die Zuschauer blicken auf eine steile Kurve, im oberen Abschnitt der Mensch, darüber das Bild einer metallisch-glänzenden Maschine: Eine künstliche Intelligenz (KI). „Viele behaupten, unsere Gedanken und Ideen machen uns menschlich. Das hinterfrage ich“, sagt der indische Wissenschaftler, der früher Arzt war und sich deshalb besonders für das Spannungsverhältnis zwischen menschlichem Gehirn und smarter Software interessiert.
„Schon heute besitzen wir Smartphones, die eine Erweiterung unseres Gehirns darstellen“, sagt er. Außerdem nutzen wir Software, die automatisch Nachrichten schreibt und verschickt, Produkte empfiehlt und Fahrzeuge steuert. Aber das sei erst der Anfang, die ersten Symptome einer neuen Zeit, einer neuen Evolutionsstufe, die über jede menschliche Entwicklung weit hinausreiche.
Vision und Investition
In der Zukunft werden intelligente Maschinen über die Menschen herrschen, wird die Technik fähig sein, sich selbst immer weiter zu optimieren – bis hin zu einer Superintelligenz. Das zumindest behaupten jene, die wie Mohammed der Theorie der technologischen Singularität anhängen: Die extreme Beschleunigung des Fortschritts durch Maschinen, die sich selbst verbessern, Roboter und Software also, die irgendwann intelligenter werden als ihre Erfinder. Man könnte solche Ideen für die Fantasien von Science-Fiction-Fans halten, würden nicht weltweit immer mehr Unternehmen in Innovationen investieren, die genau in diese Richtung zielen. Künstliche Intelligenz boomt. Seit 2011 hat sich die Investitionshäufigkeit in KI-Startups laut CB Insights versechsfacht. Alleine 2016 haben Venture-Capital-Geber bereits in mehr als 200 Unternehmen investiert, die sich mit Künstlicher Intelligenz befassen.
Derzeit arbeiten die meisten solcher Firmen an Software für spezielle, stark eingegrenzte Probleme. Sie versuchen zum Beispiel durch selbstlernende Programme Krankheiten zu diagnostizieren und Kreditkartenbetrug zu erkennen. Doch die Visionen mancher Unternehmer reichen deutlich weiter. CB Insights hat 31 der Unternehmenszukäufe seit 2011 als besonders relevant eingestuft. Neun davon entfallen auf Google. Seit 2012 leitet Ray Kurzweil die Entwicklungsabteilung des Konzerns. Kurzweil gilt als einer der prominentesten Pioniere im Bereich der Sprach- und Texterkennung und als vehementer Fürsprecher und Verfechter der technologischen Singularität. Spätestens 2030, so prophezeit es der Futurist, soll dieser Zustand eintreten. Dann soll auch Mind Uploading möglich werden, also die Übertragung des eigenen Gehirns auf Computerspeichermedien. Weil Kurzweil an die kommende Unsterblichkeit glaubt, nimmt der 68-Jährige jeden Tag Dutzende Vitamine. Schließlich will er nicht sterben, bevor zumindest sein Geist unsterblich werden kann.
»Alles zielt darauf hin«
Es seien Kurzweils Ideen gewesen, sagt Fabian Westerheide, die ihn inspiriert hätten, sich mit der Singularität zu beschäftigen. Westerheide ist der Organisator der Veranstaltung mit dem apokalyptischen Titel „Rise of AI – Human Coexistence with Machines“. „Irgendwann habe ich begriffen: Alles zielt daraufhin“, sagt er. Westerheide investiert mit seiner Firma Asgard Capital in Hard- und Software-Startups, die an Lösungen für das Internet der Dinge, an Drohnen, Robotern, Virtual Reality und an Künstlicher Intelligenz arbeiten. „Bis zur Singularität“, so steht es auf der Internetseite des Wagniskapitalgebers.
Der Investor spricht wie ein Priester vor seinen Gläubigen, wenn er auf der Bühne steht und vom kommenden Zeitalter der Maschinen erzählt. Wenn er über Erfindungen redet, die uns heute länger leben lassen, die die Arbeitszeit verkürzen und den Wohlstand seit der Industriellen Revolution immer weiter erhöhen, dann lässt er keinen Zweifel daran, dass er sich von den künftigen Innovationen ähnliche Erfolge erhofft: „Ich habe den Traum, dass kein Mensch mehr etwas machen muss, was er nicht will.“
Im Zwiegespräch wirkt Westerheide kritischer. „Ich glaube, das ganze Thema KI ist wie ein Tsunami, der auf uns zurollt. Und ich bin lieber auf dem Surfbrett“, sagt der Mann, der sein Familienkapital dazu verwendet, um besagter Fortschrittswelle noch mehr Schlagkraft zu verleihen. „Erschaffen wir gerade unsere eigenen Götter und Über-Ichs?“, schrieb Westerheide kürzlich in einem Tweet. Im Gespräch erläutert der Investor, „Singularität“ sei in der Szene so etwas wie ein Erkennungswort, das dem Gegenüber zeige, dass man sich auskennt.
Anwälte, Ärzte und Fahrer ersetzen
Hat er Angst vor einer solchen Zukunft? Die wahre Gefahr seien nicht Maschinen, die intelligenter sind als wir, sondern solche, die effizienter arbeiten. Die Gefahr einer kommenden Massenarbeitslosigkeit ist für ihn real: “Immer mehr Arbeitsplätze werden durch Technik ersetzt, ohne dass im gleichen Tempo neue Stellen geschaffen werden. Das gab es in der Geschichte so noch nicht.” Beispiele seien Anwälte, Ärzte und Lastwagenfahrer, die in naher Zukunft durch intelligente Software ersetzt werden könnten. So will das US-Unternehmen Uber noch in diesem Monat anfangen, mit selbstfahrenden Taxis auf den Straßen der US-Stadt Pittsburgh Geld zu verdienen. Die Roboter auf Rädern werden Taxifahrten billiger machen und Fahrer mittelfristig überflüssig.
Dass viele Jobs ersatzlos wegfallen werden glaubt auch Trent McConaghy. „Es ist ein Wettrennen“, ruft der promovierte Elektroingenieur seinen Zuhörern von der Bühne immer wieder zu. Der Kanadier spricht schnell und energiegeladen. Wie Westerheide geht der Forscher davon aus, dass ein rasanter technologischer Fortschritt über uns kommen wird wie eine Naturgewalt und dass sich keine noch so gefährliche Innovation verhindern lässt. Eine einzige Erfindung irgendwo auf der Welt reiche aus, um die Standards für jeden von uns dramatisch zu verändern. Egal, ob intelligente Programme Autos steuern, E-Mails beantworten oder Krankenakten analysieren, es gehe in jedem einzelnen Fall ausschließlich darum, Geld zu sparen und weniger für menschliche Arbeit zu bezahlen, sagt McConaghy: „Es ist ein Wettrennen im Namen der Optimierung.“
Geld sei auch der einzige Grund gewesen, warum der Google-Konzern (heute Alphabet Inc.) das KI-Startup DeepMind 2014 für eine halbe Milliarde US-Dollar kaufte: „Die konnten einfach zeigen, dass sie noch mehr Leute dazu bringen, auf Werbung zu klicken“, sagt der Wissenschaftler und Unternehmer.
Kleine Fortschritte, großes Geld
Wie viele andere Singularitäts-Verfechter spricht auch McConaghy von der Macht des exponentiellen Wachstums. Gordon Moore, einer der beiden Intel-Gründer, postulierte 1965, dass sich die Anzahl der elektronischen Bauteile von integrierten Schaltungen künftig etwa alle zwei Jahre verdoppeln würde – und dadurch auch die Rechenleistung von Prozessoren. Das sogenannte Mooresche Gesetz ist kein Naturgesetz aber eine beobachtbare Faustregel. Eine, die in den vergangenen Jahrzehnten zu einem unglaublich schnellen, technologischen Wandel geführt hat – vom raumgroßen Großrechner zum Smartphone in wenigen Jahrzehnten.
„Alle paar Jahre hat diese Leistungssteigerung zu neuen Märkten geführt“, sagt McConaghy. „Deshalb sollten wir auch nicht glauben, die Singularität komme erst in 100 Jahren.“ Mit sehr viel Geld werde in vielen Forschungseinrichtungen und Unternehmen versucht, diesen Zustand eher eintreten zu lassen. Denn jede nur denkbare Erfindung auf dem Weg ins Zeitalter der Maschinen sei eine neue Einnahmequelle für Unternehmen. Selbst, wenn sie noch so abstrus ist, wie Hirnscanner, Software, die Gedanken liest und in getippten Text verwandelt oder externe Speicher für die eigenen Gedanken.
Der Wettbewerb
Von solchen „Upgrade“-Möglichkeiten für den Menschen sollten wir Gebrauch machen, so der KI-Forscher. Warum? Um den Maschinen nicht gleich das ganze Spielfeld zu überlassen. Unser eigenes Hirn „upzugraden“, sei dabei die einzige Chance. Selbst wenn wir an der Stelle unseres Gehirns zum Schluss nur noch Silikon hätten. Es sei eben ein harter Wettkampf. Zuerst Erfinder gegen Erfinder, dann Mensch gegen Maschine. Wenn es nicht um Geld gehe, dann um strategische Vorteile: „Wenn eine einzige Erfindung reicht, um alles zu verändern, glaubt ihr dann, China oder Russland werden sich da an amerikanische Regeln halten?“, fragt McConaghy sein Publikum.
Wer sind die Jünger dieser apokalyptischen Messe? Viele der Zuhörer verbindet mit dem Thema KI ein berufliches Interesse. „Es gibt heute schon Vieles, was KI besser kann als wir“, sagt Mirela Mustata, die in Berlin in einem E-Commerce-Startup arbeitet, das solche Technologien bereits einsetzt. Ein anderer Zuhörer stimmt zu. Seine Firma nutzt KI, um Shoppingwebseiten zu optimieren. Ob sie an die Singularität glauben oder nicht: Für viele der Gäste ist Künstliche Intelligenz schon zu weit in ihren Arbeitsalltag vorgedrungen, als dass sie sie ignorieren könnten.
Am Eingang des Saals haben die Veranstalter ein Poster aufgestellt. Mit bunten Farbpunkten sollen die Gäste abstimmen, wie aufgeschlossen sie verschiedenen Zukunftstechnologien gegenüberstehen. Besonders viele Ja-Tupfen erhielten die Aussagen: „Ich würde meine DNA verbessern“, „Ich würde bio-mechatronische Körperteile verwenden“ und „Ich würde Gehirnimplantate nutzen“. Die Gäste des Events können die künftigen Geschäftsfelder aus der KI-Forschung scheinbar kaum erwarten.