Wie leben wir online? Helen Margetts leitet das Oxford Internet Institute. Foto: Tim Muntinga

»Für eine bessere Politik müssen wir Forderungen an Facebook und Twitter stellen«

Die Oxford-Professorin Helen Margetts spricht im Interview über Chancen und Risiken von Politik im Zeitalter von Social Media.

Frau Margetts, in Ihrem Buch »Political Turbulence« argumentieren Sie, dass sich politische Systeme, ähnlich wie das Wetter, immer chaotischer verhalten. Warum?

Zum einen generieren politische Systeme heute in einer Art Daten, wie sie es vorher nie getan haben. Noch wichtiger für unser Argument jedoch ist, dass Social Media sehr kleine Akte der politischen Teilhabe ermöglichen. Das ist neu. Davor war Politik viel schwerfälliger. Man musste einer Partei beitreten, auf die Straße gehen oder an Türen klopfen. Aufwendige Akte. In den sozialen Medien hingegen kann man sehr kleine Dinge tun, ein Like, ein Share, das geht schnell. Die Dynamiken, die das zusammen ergibt, scheinen sich mehr wie chaotische Natursysteme zu verhalten. Deswegen habe ich das Buch unter anderem mit einem Physiker geschrieben.

Um diese Dynamiken besser zu verstehen, haben Sie und Ihre Kollegen verschiedenste Experimente in den sozialen Medien durchgeführt. Mit welchem Ergebnis?

Drei Aspekte sind interessant. In allen sozialen Medien wie Facebook oder Twitter gibt es eine Vielzahl an Informationen darüber, was andere Menschen gerade tun. Man sieht, was von wem geliked oder geteilt wurde, verbunden mit Informationen über den Absender. Und wir wissen aus Jahrzehnten der Sozialforschung, dass solche sozialen Informationen über das Verhalten anderer Entscheidungen beeinflussen. Zweitens gibt es verschiedene Forschungen darüber, wie Menschen mit verschiedenen Persönlichkeiten auf solche sozialen Informationen reagieren. Die einen finden jemanden sympathisch, der viele Follower hat. Andere unterstützen vielleicht eher etwas, das kaum jemand liked.

Und drittens sind alle dabei sichtbarer denn je. Nie zuvor konnte jemand anderes sehen, wie viele Menschen dein Argument gehört haben oder ihm zustimmen. Das wiederum beeinflusst die Reaktion unterschiedlich. Individualisten motiviert Sichtbarkeit eher, sich für ein Gemeinschaftsgut einzusetzen. Soziale Menschen hingegen fühlen sich von der Sichtbarkeit öfter abgeschreckt und in eine Rolle gedrängt.

Sie haben herausgefunden, dass sich durch Social Media Menschen politisch beteiligen, die vorher kein Interesse an Politik hatten. Welche sind das?

Vor allem junge Leute. Jahrelang hieß es, die Jungen würden sich nicht für Politik interessieren. Doch Social Media hat sie zur Politik gebracht. Hunderttausende Briten etwa unterschrieben Petitionen, die es Donald Trump verbieten sollten, nach Großbritannien zu reisen – als Antwort auf seine Ankündigung, alle Muslime von den USA fernzuhalten. So etwas wäre früher für junge Leute viel zu aufwendig gewesen. Social Media macht es einfach.

Das klingt doch nach einer demokratischeren Zukunft.

Einerseits ja. Mehr Teilhabe ist demokratischer. Das Problem ist, dass politische Institutionen mit dieser neuen Dynamik schlecht umgehen können. Plötzlich werden Einzelne von außen ins politische System gebracht, die weder Anbindung noch Erfahrung mit dem System haben. Die britische Labour-Partei ist noch immer völlig zersplittert von dem plötzlichen massiven Zuspruch gegenüber Jeremy Corbyn. Und glauben Sie wirklich, die Republikaner werden sich je von Trumps Erfolg erholen?

Ist das die Verbindung zu Populismus?

Ja. Populismus ist per Definition Anti-Establishment. Die Menschen lernen, dass solche politischen Mobilisierungen außerhalb des Establishments plötzlich Erfolg haben können.

Nach einem Artikel im Schweizer „Magazin“ über Cambridge Analytics und persönliches Profiling wird nun viel über die manipulativen Möglichkeiten durch Social Media diskutiert. Denken Sie, das hat wirklich das Ergebnis der Wahl verändert?

Ich denke nicht, dass Social Media der Hauptfaktor war. Nur weil Trump viel twittert, heißt das noch nicht, dass er dadurch die Wahl gewonnen hat. Dennoch haben Social Media sicher eine Rolle gespielt. Zum einen hat Trump Twitter genutzt, um viel kostenlose Medienaufmerksamkeit zu bekommen. Er hat extrem wenig für TV-Werbung ausgegeben. Aber durch seine wirren Tweets mitten in der Nacht haben alle Medien am nächsten Morgen darüber berichtet. Der andere wichtige Faktor war personalisierte Werbung. Er hat weit mehr für Social-Media-Werbung ausgegeben als Clinton. Etwas Ähnliches haben wir bei den englischen Wahlen 2015 gesehen. Die Konservativen haben im Vergleich zu Labour das Zehnfache für Facebook-Werbung ausgegeben. Das war wohl sehr wichtig für die überraschend guten Ergebnisse der Konservativen. Auch bei Brexit hat die Leave-Kampagne viel mehr dafür ausgegeben.

Was sind die Risiken solcher Werbeformen?

Je komplexer solche Werbeformen werden, desto leichter ist es, genau die Leute zu finden, die noch unentschlossen sind. Um die geht es, nicht um die Überzeugten. Und die können dann personalisiert angesteuert werden – und sei es durch Posts wie “Katzen lieben Donald Trump”.

…eine Folge von Filterblasen also?

Die Diskussion über Filterblasen und Echokammern ist völlig entgleist. Wann immer die Diskussion auf Filterblasen schwenkt, reden selbst viele Experten plötzlich völligen Unsinn. Die perfekte Filterblase wäre es, nur die Daily Mail zu lesen oder nur Fox zu gucken. Trotz Personalisierung bin ich da auf Facebook mehr unterschiedlichen Menschen und Meinungen ausgesetzt.

Wo liegt dann das Problem?

Einerseits das extrem simbiotische Verhältnis zwischen größeren Medien und Twitter. Dann Webseiten, die sich gezielt darauf spezialisieren, automatisch Falschnachrichten zu produzieren und zu verbreiten. Und – in diesem Zusammenhang – Bots aus Russland oder Mazedonien, die helfen, diese Nachrichten zu verbreiten. Das könnte ein ernstzunehmendes Problem werden.

Was wäre dagegen zu tun?

Um unsere politische Welt zu verbessern, müssen wir unweigerlich anfangen, Forderungen an Facebook und Twitter zu stellen. Ihre Algorithmen sind geheim und formen doch, was wir sehen. Ihr Argument dagegen ist immer ihr Firmengeheimnis. Aber ihr Geschäftsmodell ist Werbung. Wie sie Werbung zeigen, müssen sie ja nicht sagen. Trotzdem können sie doch zeigen, wie sie bestimmen, welche Nachrichten wir angezeigt bekommen.

Helen Margetts leitet seit 2011 das Oxford Internet Institute. Die Politikwissenschaftlerin forscht mit Physikern, Sozialwissenschaftlern und Informatikern zu politischen Systemen, Partizipation und Social Media.


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