Der Fahrrad-Pflegedienst von Rocket Internet
Fast jeden Tag ist Christin Heinze mit dem Rad in Prenzlauer Berg unterwegs. Die Krankenschwester arbeitet für einen ambulanten Pflegedienst und betreut alte und kranke Menschen. Um 7:07 Uhr ist sie an diesem Tag gestartet, wie der „TourPilot“ auf ihrem Smartphone minutengenau anzeigt. Bei sechs Patienten war sie schon, neben dem Namen leuchtet in der App ein grünes Kästchen. Fünf Termine stehen noch an.
Heinze arbeitet für Pflegetiger, ein Berliner Startup, das mit Smartphone-Apps und anderer moderner Technik die Pflege modernisieren will. Dahinter steht Rocket Internet, die berühmt-berüchtigte Startup-Schmiede der Samwer-Brüder. Sie haben einst wie am Fließband Klone erfolgreicher US-Unternehmen produziert, am erfolgreichsten mit dem Modehändler Zalando. Und nun haben sie sich also die Pflege vorgenommen.
Es ist ein Milliardenmarkt, der durch die Alterung der Gesellschaft auch zuverlässig wächst. Zugleich aber auch ein enorm schwieriges Geschäft, geprägt von Personalmangel, Stress und schlechter Bezahlung. Die Probleme haben so sehr zugenommen, dass bei der Diskussion über Pflege fast zwangsläufig das Wort Pflegenotstand fällt. Auch die Politik hat die Dringlichkeit inzwischen erkannt, der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will mit einem Sofortprogramm 8000 neue Stellen schaffen. Wie will ausgerechnet Rocket Internet hier reüssieren?
Nach den Regeln der Branche tanzen
Die Frage haben sich auch die Gründer beim Start vor zwei Jahren gestellt. „Wir haben uns erst nicht wirklich herangetraut“, sagt Philipp Pünjer. Vor allem die strenge Regulierung schreckte ihn. Mal eben alles ganz anders machen und bestehende Vorgaben ignorieren oder kreativ auslegen, wie die großen US-Vorbilder Uber oder Airbnb, die so den Taxi- und Hotelmarkt aufmischen, das geht in so einem sensiblen Bereich nicht. „Man muss schon nach den Regeln der Branche tanzen, um mitzuspielen“, sagt Pünjer.
Doch wenn man mit der Brille von Technologie- und BWL-Spezialisten auf einen Markt schaut, kommt man auf neue Ideen. Wie die Sache mit den Fahrrädern. Bei fast alle klassischen Pflegediensten sieht es aus wie am Hauptsitz von Pflegetiger am Treptower Park. Auf einem Parkplatz stehen in langer Reihe die Kleinwagen der Pfleger mit dem Logo des Arbeitgebers – allerdings gehören die zu einem Konkurrenten, der direkt daneben sitzt. Pflegetiger verzichtet auf eine Autoflotte, fast alle Mitarbeiter sind stattdessen mit dem Fahrrad unterwegs.
Pfleger nutzen Fahrräder statt Autos
Das spart Geld. Der Hauptgrund für die Radstrategie ist aber ein anderer: Pflegetiger will die Routen und Wege seiner Mitarbeiter möglichst kurz halten. Daher sind alle dort unterwegs, wo sie auch wohnen. Christin Heinze macht den Job seit 15 Jahren und war zuvor für verschiedene Dienste mit dem Auto kreuz und quer in der Stadt unterwegs. Da reichten die Touren von Schöneberg bis Spandau. „Das war oft megastressig“, sagt Heinze.
Staus und Parkplatzsuche fallen jetzt weg. Solange es nicht regnet, sei die Arbeit dadurch viel angenehmer. Und wenn mal ein Termin ausfällt, kann sie kurz zwischendurch daheim die Waschmaschine starten. Selbst den morgendlichen Weg ins Büro, um das dicke Schlüsselbund abzuholen, erspart Pflegetiger seinen Mitarbeitern, die Türöffner sind lokal in Safes bei Spätis und anderen Läden deponiert. Dafür hat Heinze mehr Zeit bei den Patienten – sonst einer der größten Kritikpunkte von Betreuern und Betreuten.
Mehr Zeit bei den Patienten
Um das zu ermöglichen, macht Pflegetiger noch etwas anders: Das Unternehmen beschäftigt nur Mitarbeiter, die auch medizinische Aufgaben erledigen können. Diese übernehmen aber auch die sogenannte Grundpflege, dazu gehören Waschen oder Frühstück machen. Mit diesen einfacheren Tätigkeiten werden sonst oft Pflegehelfer beauftragt, sodass am Tag verschiedene Personen kommen: eine zum Baden, danach eine andere, um Stützstrümpfe anzuziehen.
Das Startup will dagegen alles aus einer Hand erledigen. So haben die Pfleger mehr Zeit mit den Patienten, und auch die Terminkoordination ist einfacher. Dazu wird auch viel Technologie im Hintergrund eingesetzt. Die Tourenpläne werden automatisch aktualisiert, und auch die Dokumentation der Tätigkeiten machen Heinze und ihre Kolleginnen digital per App – jedenfalls soweit es geht. Trotzdem muss sie vor Ort noch extrem viel schreiben. Blutzuckerwerte in Tabellen beispielsweise. Die fotografiert Heinze dann ab und schickt das Bild per App ins Büro.
Ohne Fax geht nichts
Noch steckt die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen in den Anfängen. „Mein größter Wunsch wäre ein elektronischer Datenaustausch zwischen den Systemen“, sagt Pflegetiger-Mitgründer Constantin Rosset. Oft druckt das Krankenhaus etwas aus, faxt es dem Startup, dort wird es wieder abgetippt. Das Fax ist generell noch das wichtigste Kommunikationsmittel mit Ärzten. Rosset und seine Leute haben daher eine Software entwickelt, die Faxe mittels Texterkennung teils automatisch digitalisiert.
All das helfe, mit vergleichsweise wenig Leuten eine große Truppe zu koordinieren. 130 Mitarbeiter hat das Startup inzwischen, davon 30 im Büro. „Wir sind jetzt einer der größeren ambulanten Pflegedienste in Berlin“, sagt Rosset. Nicht schlecht, zwei Jahre nach der Gründung. Nun sondiert das Unternehmen schon, in welche Stadt Pflegetiger als nächstes expandieren könnte. Da zeigt sich die Schule von Rocket Internet und der Privatuni WHU, an der einst Oliver Samwer lernte und bis heute gern Nachwuchs rekrutiert – so wie Rosset und Prünjer, die sich auch in Vallendar kennenlernten. Danach hatten sie ein Auktionsportal aufgebaut und Onlinewerbung für den russischen Markt optimiert. Es klingt ehrlich, wenn Sie sagen es sei befriedigender, statt solcher „Bequemlichkeitsprobleme“ sich nun um elementarere Bedürfnisse zu kümmern. Und zugleich wundern sie sich immer wieder, wie ausgeklügelt einerseits hochautomatisierte Onlinewerbesoftware heute funktioniere und wie altmodisch es im Vergleich dazu im Gesundheitssystem zugeht.
Pflegetiger expandiert in andere Städte
Auch deswegen hat das Startup seine eigene Software entwickelt, zumal die vorhandenen Systeme alle auf Autoflotten ausgelegt sind. Nun soll sie auch für die Expansion genutzt werden. „Technisch sind wir schon so weit, dass wir von hier aus auch Touren in München planen könnten“, sagt Prünjer. Doch egal wo der erste Ableger öffnet, ein Büro vor Ort werden sie brauchen. Dort könnten sie noch in diesem Jahr die nächsten Pfleger anwerben. Wer auf die Radelei keine Lust hat, steigt oft schon während des Bewerbungsgesprächs aus. Doch viele kommen auch gerade deswegen: Mehr als die Hälfte der 100 Pflegekräfte hat nicht einmal einen Führerschein. Ärger um Reparaturkosten wie bei den Radflotten von Lieferdiensten wie Foodora gebe es ebenfalls nicht. Bald sollen die Pfleger zudem E-Bikes gestellt bekommen.
„Die Jungs überlegen immer wieder, was sie noch verbessern können“, sagt Heinze. Als sie damals per Xing von Pflegetiger angeworben wurde, wurde sie mit dem Versprechen gelockt, den Pflegeberuf wieder besser zu machen. „Das klappt im Leben nicht“, hatte sie gedacht. Inzwischen sieht sie es anders. Rocket Internet verdient Geld damit, den Alltag für Patienten und Pflegekräfte zu verbessern. Heinze hat sich mehrfach gefragt, wo der Haken dabei ist. Bisher hat sie ihn aber noch nicht gefunden.