Gemeinsam Zukunft schreiben
Eine Woche noch. Dann ist es wieder so weit. Wir werden in irgendeine Grundschule stapfen, die nach Kindheit riecht, werden gefaltetes Papier in die Hände gedrückt bekommen und zwischen klapprigen Sichtschutzwänden zwei Kreuze machen. Spätestens am nächsten Morgen werden wir wissen, wer uns die nächsten vier Jahre regiert. Für viele wird es das dann auch wieder gewesen sein mit der politischen Mitbestimmung.
Es fehlte oft am richtigen Werkzeug
Muss das in Zeiten der Digitalisierung so sein? Nein, findet Daniel Reichert. Der Wahlberliner beschäftigt sich seit Jahren mit der gleichen Frage: Wie kann man digitale Mitbestimmung umsetzen? Für die Frage hat er vor sieben Jahren sein Politikwissenschaftstudium geschmissen und mit Gleichgesinnten den Verein Liquid Democracy gegründet, deren Vorsitzender und Geschäftsführer er bis vor knapp zwei Jahren war. Da hatten sie mittlerweile 30 Mitarbeiter und Projekte mit NGOs, Unis, dem Berliner Senat und fast allen großen Parteien gemacht.
Und für die Frage hat er vor einem Jahr nochmals neu angefangen, nachdem er Vater wurde. Weil er lieber erfindet als große Strukturen leitet. Und weil er zusammen mit Matthias Fischmann eine Software entwickeln will, die es erlaubt, mit beliebig vielen Menschen am gleichen Dokument zu arbeiten und abzustimmen, welches die finale Version ist – ganz egal, ob an einem Gesellschaftervertrag, Gesetz oder Forschungsantrag. Denn das fehlt, hatte er in den Jahren zuvor gelernt. Zu oft stand er vor der Aufgabe, zahllose Word-Dokumente mit sich teils widersprechenden Anmerkungen verschiedener Team-Mitglieder am Ende zusammenführen zu müssen.
Vom Umgang mit Widerspruch
„Das Problem dabei ist immer, mit widersprüchlichen Meinungen umzugehen, die im gleichen Text landen sollen“, sagt Reichert, der sich oft genug mit unzähligen Versionen eines Word-Dokuments und Änderungswünschen rumschlagen musste. „In unserer Software kann man beliebig festlegen, wie über die endgültige Version entschieden wird“, sagt er. Zum Beispiel völlig basisdemokratisch. Dann können alle Mitarbeiter im Dokument abstimmen, welcher Formulierungsvorschlag stehen bleibt.
Weil das nicht immer sinnvoll ist, können aber genauso verschiedene Rechte für verschiedene Nutzergruppen festgelegt werden. Zum Beispiel könnte eine Firma beim Verfassen ihrer Zukunftsstrategie zwar allen Mitarbeitern ermöglichen, direkt im Text Vorschläge zu machen, aber der Geschäftsführung das Recht vorbehalten, die finale Version zu bestimmen. „Solche Konsultationsverfahren erlauben, Kompetenzen von Mitarbeitern egal welcher Hierarchiestufe miteinzubeziehen, die sonst oft verloren gehen, weil der Vorstand die Ideen weiter unten nie hört“, sagt der 38-Jährige. „Es ist einfach nicht mehr zeitgemäß, die besten Vorschläge nicht einzubeziehen.“
Dumme Fragen
Genauso wäre es möglich, gemeinsam an Gesetzen oder Parteiprogrammen zu arbeiten. Jeder könnte zusätzliche Passagen vorschlagen, Experten sie einordnen, Politiker sie kommentieren und der Parteitag oder Bundestag am Schluss darüber abstimmen. Das größte Hindernis dabei: „Politiker müssten sich trauen, auch dumme Fragen zu stellen und die Reaktionen aushalten“, sagt Reichert. Die erste Version von Liqula will Reichert im Herbst mit einer geschlossenen Gruppe testen. 2018 soll sie marktreif sein. Liqula wird als Open Source Software veröffentlicht werden. Das heißt, jeder kann an der Software mitarbeiten und sie überprüfen. Alles andere wäre undemokratisch, sagt Reichert. “Wenn es um Demokratie geht, darf es keine Black Boxes geben.”