Ohne Berlin kein Netflix
Die Sache mit dem MP3-Player soll sich nicht wiederholen, findet Berlins Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU). In den 90er Jahren entwickelten Forscher am Fraunhofer IIS die Technologie, mit der ein Jahrzehnt später eine ganze Generation ihre musikalische Jugend erlebte. Die Abspielgeräte in ihren Taschen waren aber nicht von Siemens, Loewe oder anderen deutschen Technikpionieren, sondern von Apple. Der kalifornische Konzern revolutionierte mit seinen iPod genannten Geräten das Hören von Musik – und verdient bis heute Milliarden Dollar damit. Von den deutschen Erfindern der Technologie am Institut für Integrierte Schaltungen (IIS) in Erlangen, Karlheinz Brandenburg, Harald Popp und Bernhard Grill, sprach und spricht in der breiten Öffentlichkeit kaum jemand.
Emmy für Berliner Forscher
“Wenn ich erzähle, dass die Streaming-Technologie von Netflix in Berlin entwickelt wurde, ernte ich oft ungläubige Blicke“, sagt Yzer. Das sei einer der Gründe dafür, dass Berlin das Leistungszentrum Digitale Vernetzung gründet. Zugespitzt gesagt: Die Welt soll erfahren, dass in jedem Smartphone ein Stück Berlin steckt.
Denn immer, wenn es darum geht, Videodateien in so kleine Datenpakete zu pressen, dass sie auf der Datenautobahn vom Sender zum Empfänger möglichst schnell und platzsparend unterwegs sind, ist Berliner Technologie beteiligt. Die Forscher am Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut (HHI) gelten nicht nur bei Wissenschaftskollegen und Tech- Unternehmen weltweit als Ratgeber, sondern haben auch schon mal einen der sehr begehrten US-Medienpreise Emmy bekommen.
Sechs Millionen Euro für vier Institute
Damit solche und ähnliche Leistungen nicht nur mehr öffentliche Wahrnehmung erfahren, sondern das Wissen der Forscher auch Berliner Gründern zugute kommt, gibt der Senat nun sechs Millionen Euro für die Förderung des Leistungszentrums aus. In vier Schwerpunkten arbeiten die vier Berliner Institute Fokus, HHI, IPK und IZM demnach künftig zusammen. Neben der Industrie fokussieren sich die Forscher auf Mobilität, Gesundheit, kritische Infrastrukturen/Energie.
„Wir konzentrieren uns auf Schwerpunkte, die für die Digitalisierung entscheidend sind“, sagt Manfred Hauswirth, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Offene Kommunikationssysteme (Fokus). Testumgebungen für die Vernetzung von Industrie und IT-Wirtschaft und den künftigen Mobilfunkstandard 5G sollen ebenso entstehen, wie ein Spielfeld für das Internet der Dinge.
5G für autonomes Fahren in Berlin
Wie wichtig solche angewandte Forschung ist, verdeutlicht ein Blick auf das, was die Welt in den kommenden Jahren erwartet. Bis zum Ende des Jahrzehnts soll es 50 Milliarden Busse und Bahnen, Kühlschränke, Rauchmelder und andere Alltagsdinge geben, die über eigene Internetadressen miteinander in Kontakt kommen können. Eines der griffigsten Szenarien dabei ist das selbstfahrende Auto, das sich mit anderen autonomen Fahrzeugen durch Städte und über Autobahnen bewegt. Google und etliche Autohersteller arbeiten bereits daran. Auch Apple soll an einem solchen Fahrzeug tüfteln. Bis 2020 könnte es erste marktreife Automodelle geben.
Grundvoraussetzung für solche Szenarien sind Echtzeitdaten. Kurz gesagt: Jede Verzögerung, die bei der Datenübertragung auftritt, gefährdet den Straßenverkehr. Dass Daten – wie heutzutage üblich – erst einmal in die USA geschickt, dort verarbeitet und wieder zurückgeschickt werden, ist künftig unmöglich. Nicht zuletzt, weil die Welt auf diese Weise nicht nur komplexer wird, sondern immer näher zusammenrückt, wollen sich auch große Unternehmen am Berliner Digitalzentrum beteiligen.
IBM, Cisco und Tomtom sind interessiert
„Als einzelnes Unternehmen kann man die komplexen Systeme, die heutzutage benötigt werden, gar nicht entwickeln“, sagt Lothar Mackert, Sicherheitsexperte bei IBM Deutschland. Das sei einer der Gründe, warum IBM an diversen Projekten entscheidend mittun wolle. „Wir sehen drei Bereiche, in denen wir konkret zusammenarbeiten können: In der vernetzten Sicherheit, beim Internet der Dinge und in der Gesundheitswirtschaft.“ Das Leistungszentrum werde wie ein Katalysator wirken, ist Mackert überzeugt: Es helfe dabei, die richtigen Akteure aus Wirtschaft und Wissenschaft zusammenzubringen.
Das scheint bereits in der Startphase zu gelingen. Obwohl Hauswirth und Yzer den Vertrag zwischen Fraunhofer-Instituten und der Senatsverwaltung erst in dieser Woche unterschrieben haben, sind offenbar schon große Unternehmen mit im Boot. Neben IBM ist vom Netzwerkspezialisten Cisco die Rede, der bereits ein Innovationszentrum auf dem Schöneberger Euref-Campus betreibt. Auch der niederländische Kartenspezialist Tomtom, der unter anderem die Daten für Millionen von Navigationsgeräten in Pkws liefert, soll an konkreten Projekten des Zentrums interessiert sein.
Start-ups und Ingenieure zusammenbringen
Hauswirth will sich zu Namen und Partnern noch nicht äußern. Der Adressat des Leistungszentrums ist indes klar: „Indem wir diese grundlegenden Projekte finanzieren, wollen wir ein dauerhaftes Angebot schaffen: für Mittelständler und Start-ups.“ Eine gute Idee, findet Michael Diebold. Der Informatiker will mit seinem frisch gegründeten Unternehmen Meisterwerk Ventures Gründern im Hardwarebereich eine Stimme geben. „Die Hardware-Gründer werden in Berlin derzeit zu wenig gehört“, sagt er.
Tatsächlich sagen Experten der Start-up-Szene in der Hauptstadt nach, viel vom Programmieren, aber wenig vom Ingenieurwesen zu verstehen. Während sich im Süden der Republik technisch-orientierte Gründer im Umfeld von Autoherstellern und Maschinenbauern versammeln, fehlt dieses Umfeld in Berlin fast vollständig. Ein Anziehungspunkt wie das auf anwendungsnahe Forschung konzentrierte Leistungszentrum könnte das ändern, glaubt Diebold. „Mit Hilfe des Leistungszentrums können wir in Berlin ein zweites Schlaglicht neben der Internetszene erzeugen.“
#Nächste MP3 in Berlin fertig entwickeln Dabei werde es nicht allein bei Start-ups und der Industrie zu sinnvollen Lerneffekten kommen, hofft Fokus-Institutsleiter Hauswirth. Auch für die Forscher an den Fraunhofer-Instituten sei das Konzept etwas Neues. Punktuell arbeite man an seinem Institut auch mit dem Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK), dem Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM) und dem HHI zusammen – und umgekehrt. Künftig werde aus punktuell umfassend – mit allen Herausforderungen. „Nur weil Mediziner und Informatiker Wissenschaftler sind, heißt das nicht, dass sie sich verstehen.“
Und auch die Industrie teilt einen Traum mit Berlins Wirtschaftssenatorin. „Unser Ziel muss sein, dass Schlüsseltechnologien wie MP3 in Deutschland nicht nur entwickelt, sondern auch zur Marktreife gebracht werden“, sagt IBM-Mann Mackert. „Mit dem Leistungszentrum sehe ich Berlin da gut im Rennen.”