In der Post-Pubertät
Als Hergen Wöbken neulich in San Francisco war, musste er mal wieder feststellen, was Berliner gar nicht gerne hören: „Die kennen uns dort nicht.“ Ein harter Satz für all diejenigen, die die deutsche Hauptstadt gerne in einem Atemzug mit dem Silicon Valley nennen. Ob der Hype um die Berliner Start-up-Szene dennoch berechtigt ist, wollte Wöbken mit seinem Institut für Strategieentwicklung (IFSE) mit einer Studie herausfinden, die am kommenden Mittwoch im Rahmen einer Diskussion mit Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) offiziell vorgestellt wird und dem Tagesspiegel bereits exklusiv vorliegt.
„Wir erleben derzeit ein ,booming Berlin‘, aber Hybris ist trotzdem nicht angebracht“, fasst IFSE-Geschäftsführer Wöbken das Ergebnis der Studie zusammen, in der die Entwicklung der Berliner Gründerszene seit 2012 ausgewertet wurde.
Von 270 auf 620 Start-Ups in drei Jahren
Allein der Blick auf die Anzahl der Unternehmen zeigt, wie enorm die Start-up-Szene in den vergangenen drei Jahren gewachsen ist: von 270 auf 620 Unternehmen, die Zahl der Mitarbeiter habe sich nahezu verdoppelt mit rund 6700 Mitarbeitern auf 13 200 Mitarbeiter, wobei ein Start-up in der Studie als Unternehmen definiert wird, das ohne Internet nicht denkbar ist, ein skalierbares Geschäftsmodell hat und nicht älter als fünf Jahre ist. Zusammengerechnet wären alle Start-ups damit der fünftgrößte Arbeitgeber der Stadt Berlin hinter den Berliner Verkehrsbetrieben und vor Siemens (siehe Grafik). „Wenn die Entwicklung so weitergeht, könnten alle Start-ups zusammen schon in zwei Jahren an erster Stelle stehen“, lautet die Prognose von Wöbken, der damit eine Neuauflage der „roaring twenties“ aufkommen sieht. „Die Berliner Start-up- Szene hat ihre Pubertät hinter sich, wir stehen am Anfang einer großen Entwicklung“, meint Wöbken.
Bemerkenswert findet er, dass die 50 größten Start-ups etwa die Hälfte aller Mitarbeiter beschäftigen. „Die Struktur mit wenigen großen und vielen kleinen Unternehmen hat sich damit kaum verändert“, erklärt Wöbken. Aber während 2012 viele der großen Unternehmen aus dem Imperium der Brüder und Zalando-Gründer Marc, Oliver und Alexander Samwer stammten, würden heute mehrere Schultern die großen Unternehmen tragen. „Es zeigt sich, dass wichtige neue Akteure in die Stadt gekommen sind“, sagt Wöbken.
Konflikte mit der Berliner Arbeitskultur
Parallel dazu würden sich auch die Schwerpunkte verändern. Während die Anzahl der Start-ups in den Kategorien „Content“ und „E-Commerce“ sinke, steige die Anzahl der Start-ups in der Kategorie „Services“. „Berlin ist innerhalb weniger Jahre techlastiger geworden“, sagt Wöbken. Dadurch entstehe ein Kern von Start-ups, aus denen heraus sich echte Innovationen entwickeln würden.
Wöbken hebt zwar die Rolle der Samwer-Brüder hervor, ohne deren Geschäftsmodelle Berlin in Bezug auf Start-ups heute „unbedeutend“ wäre, da sie erst die Aufmerksamkeit auf die hiesige Szene gezogen hätten. Doch mit ihren Geschäftsmodellen, die vor allem auf Nachahmung und effiziente Umsetzung fokussiert sind, sei aber auch „eine Kultur in die Stadt eingezogen, die in einem Spannungsfeld zu einer Berliner Arbeitskultur der digitalen Boheme um die Jahrtausendwende steht“. Obwohl Berlin eine der weltweit größten Kreativszenen biete, habe diese bisher kaum Anschluss an die Start-up-Szene gefunden, wundert sich Wöbken. Mit nur etwa 20 von 620 Unternehmen sei der Anteil der Start-ups mit einem inhaltlichen Bezug zur Kreativwirtschaft im Vergleich zum Potenzial viel zu klein. Wöbken wünscht sich hier einen deutlich besseren Austausch, „um eine Berliner Start-up-Kultur zu schaffen, die Profitabilität mit Sinnstiftung und Innovationen mit nachhaltigen Geschäftsmodellen verknüpft“.
Hype oder Hoax?
Erfreulich sei hingegen, dass auch immer mehr größere Unternehmen versuchten, an dem Berliner Start-up-Boom zu partizipieren. Gab es 2012 nur zwei solcher Akzeleratoren, in deren Räumen Gründer an ihren Ideen feilen konnten, seien es heute zehn, darunter die Deutsche Bahn mit Mindbox, Bayers Grants4Apps und Axel Springers Plug and Play. 2,1 Milliarden Euro seien 2015 in Berliner Start-ups investiert worden, womit die deutsche Hauptstadt im europäischen Vergleich den ersten Platz noch vor London belege. Berlin profitiere davon, eine hohe und noch bezahlbare Lebensqualität zu bieten, die Talente aus aller Welt anziehe. Von der Politik fordert Wöbken jedoch, künftig „mehr zu differenzieren, welche Start-ups tatsächlich förderungswürdig sind und welche ihren Weg auch ohne Unterstützung machen“. Darüber will er auch am Mittwoch mit Wirtschaftssenatorin Yzer sprechen.
Der Hype um die Berliner Startup-Szene sei zwar gut, um überhaupt Aufmerksamkeit auf die Stadt zu lenken. „Aber gleichzeitig droht die Gefahr, dass sich Investoren enttäuscht abwenden, wenn sie hier nicht die Substanz vorfinden, die sie erwarten“, sagt Wöbken. Er empfiehlt, den Hype zwar zu pflegen, aber auch zu relativieren: „Wir müssen in Deutschland verstehen, dass weder Berlin noch ein anderer deutscher Standort das neue Silicon Valley sein kann.“ Vielmehr müsse Berlin sich als eigene Start-up-Marke stärker herausbilden, anstatt dem Valley hinterherzuhecheln. „Wenn wir das richtig machen, kann Berlin durch die Digitalisierung und die weitere Ansiedlung von Talenten und Start-ups langfristig zu einem der bedeutendsten Start-up-Ökosysteme der Welt werden.“ Und wird dann vielleicht auch in San Francisco ein Begriff.