Wenn das Smartphone Schlange steht
Neulich habe ich im Supermarkt beinahe ein Brot geklaut. Aus Versehen natürlich. Schuld daran war der Self-Service-Checkout, eine Kasse, an dem man seine Einkäufe selbst scannt und bezahlt. An dieser Selbstbedienungskasse ließ sich das Pumpernickel-Brot partout nicht auf dem Bildschirm finden. Das einzig annähernd passende waren Weißmehlbrötchen. Also habe ich diese gewählt. Mit einem Preisunterschied von zwei Pfund zu meinen Gunsten.
Vieles ist fortschrittlicher als an der Uni in Berlin
Seit drei Monaten studiere ich als Austauschstudentin über das Erasmus+ Programm der EU an der University of Leeds in Großbritannien. Ich bin überrascht, wie weit uns das Land in Sachen Digitalisierung voraus ist. Das Silicon Valley gilt als Mekka des Fortschritts und auch, dass in Estland die Verwaltung komplett online verläuft, hat sich inzwischen herumgesprochen. Doch wie viel fortschrittlicher viele Prozesse der Uni hier im Vergleich zur Freien Universität Berlin (FU) sind, an der ich eigentlich studiere, und wie viel selbstverständlicher die Menschen im Alltag vieles mit dem Smartphone erledigen und bezahlen, hätte ich nicht erwartet.
Die Selbstbedienungskassen gibt es hier in jedem Supermarkt, im Baumarkt, sogar im Kino. Dadurch soll das Einkaufen schneller und einfacher werden. Ich hingegen muss mehrmals den Supermarktmitarbeiter um Hilfe bitten - auch als ich verzweifelt den Bargeldschlitz suche. „Sorry love, it’s card only“, säuselt er mir zu. Oh dear, meine Kreditkarte habe ich nicht mit. No problem, kontaktloses Bezahlen mit dem Handy sei auch möglich. Yes, big problem, ich habe noch nie etwas bezahlt, indem ich mein Handy zwei Sekunden vor ein Kartenlesegerät gehalten habe. „Oh“, macht der Mitarbeiter. Naja, ich könnte mich ja an der einzigen Kasse mit Kassierer anstellen. Da sei halt eine Schlange.
Bargeld? Nein Danke!
Die Selbstbedienungskassen haben sich in Deutschland bisher genauso wenig durchgesetzt wie das kontaktlose Bezahlen mit dem Handy über Apple oder Android Pay. Das mobile Bezahlverfahren von Apple, bei dem der Nutzer über den Fingerabdruckscanner seines Smartphones die Zahlung verifiziert, sollte auch in Deutschland schon lange eingeführt sein - verfügbar ist es bis heute nicht. Die Deutschen lieben ihr Bargeld. Laut einer Studie der Europäischen Zentralbank haben die Bürger in keinem anderen Land der Eurozone so viel Bargeld im Portemonnaie wie in Deutschland: 103 Euro trug der Deutsche 2016 im Durchschnitt mit sich herum und bezahlte 80 Prozent seiner Einkäufe in bar. Viele Selbstbedienungskassen akzeptieren hingegen kein Bargeld. Dementsprechend unbeliebt und wenig verbreitet sind sie in der Bundesrepublik.
In Großbritannien bin ich als Barzahlerin in der absoluten Minderheit. Meine britischen Kommilitonen zahlen alles mit Kreditkarte oder Smartphone - vom abendlichen Bier im Pub bis zum morgendlichen Kaffee in der Uni. Selbst der Fotoautomat im Club nimmt kein Bargeld und beraubt sich damit seines Retroflairs. Auf Flohmärkten hat jeder Standverkäufer ein Kartenlesegerät, einmal kann ich die Ohrringe sogar per Paypal bezahlen. Die Verkäuferin gibt mir dazu lediglich ihre E-Mail-Adresse und ich sende ihr das Geld über die Paypal-App.
Apps zum Wäschewaschen und Schlangestehen
Ohne Smartphone wäre ich in Großbritannien generell aufgeschmissener als in Deutschland. Die Anzahl meiner Apps steigt mit jedem Tag, den ich länger auf der Insel verbringe. Ich habe eine App zum Wäschewaschen, zum Zugticketkaufen, sogar zum Schlangestehen. Die App QLess ermöglicht es, dass ich lesen, mich verabreden oder lernen kann, während ich eigentlich in einer Schlange warte, um meinen Studentenausweis abzuholen. Ich stehe nur noch virtuell an und kann auf dem Display mitverfolgen, an welchem Platz ich grade bin. Kurz bevor ich ans Ende vorgerückt bin, erhalte ich per Push-Nachricht die Aufforderung, nun bitte an den realen Ort des Schlangestehens zurückzukehren.
Die Uni Leeds verwendet die App für alle Verwaltungs- und Beratungsvorgänge. Bei Fragen zum Auslandssemester, zur Studienfinanzierung oder zum Studentenwohnheimplatz kann ich mich während der Vorlesung bereits in einer virtuellen Schlange anstellen.
Die Digitalisierung der Verwaltung vereinfacht nicht nur das Schlangestehen. An der University of Leeds habe ich mich ausschließlich digital immatrikuliert und alle meine Kurse über dasselbe Online-Portal gewählt. Der fertige Stundenplan ist automatisch in der App der Uni gespeichert, über die mir auch die Kursräume angezeigt werden sowie die E-Mail-Adressen der jeweiligen Dozenten und Klausurtermine. Über die App kann ich auch Bücher verlängern, sehen, wo Computer frei sind und den Kaffeepreis in den verschiedenen Cafés auf dem Campus vergleichen.
Hier lade ich Hausarbeiten hoch, an der FU schiebe ich sie unter der Tür durch
An der Freien Universität Berlin kann ich einige Kurse hingegen nur über ein gesondertes Formular wählen, das ich bis zum letzten Jahr noch analog beim Fachbereich abgeben musste. Ob ich einen Seminarplatz erhalten habe, erfahre ich nach wie vor nur über eine Liste, die im Institutsgang aushängt und nicht digital einzusehen ist.
In Leeds lade ich meine Hausarbeiten in ein digitales Portal hoch, das die Wörter zählt und die Arbeiten anonymisiert. Die Dozenten haben drei Wochen Zeit, um die Arbeiten zu korrigieren und zu benoten. E-Mails beantworten sie in der Regel innerhalb einer Stunde. An der FU handhabt jeder Dozent die Abgabeform anders: Ich musste meine Arbeiten schon per Post verschicken, unter der Bürotür durchschieben, in den Institutsbriefkasten werfen oder beim Prüfungsbüro abgeben. Auf eine Note oder eine Antwort auf meine E-Mails warte ich zwischen wenigen Tagen und zwei Semestern.
Die dezentrale und zu großen Teilen immer noch analoge Verwaltung und Organisation des Studiums an deutschen Universitäten raubt Zeit und Kraft. Auch in deutschen Behörden dauert die Bearbeitung von analogen Formularen und Anträgen zu lange. Mein per Post fristgerecht verschickter Antrag für das Auslandsbafög hat es im ersten Versuch nie auf den Schreibtisch meiner Sachbearbeiterin geschafft. Auf den zweiten Antrag folgte monatelanges Hin- und Herschicken von Formularen. Ich erhielt die erste Zahlung erst, als ich bereits zwei Monate in Leeds war.
Die Briten lachen über meine abgeklebte Laptopkamera
In Deutschland scheitern digitale Innovationen oft an der Sorge der Nutzer vor dem Verlust und Missbrauch der eigenen Daten. Meine britischen Kommilitonen lachen über den Sticker, den ich über die Kameralinse meines Laptops geklebt habe und darüber, dass ich die kontaktlose Bezahloption meiner Kreditkarte deaktiviert habe. Lars Gerhold, Professor für Sicherheitsforschung an der FU, sagt, dass die kritische Perspektive auf digitale Neuerungen Innovationen aber nicht im Weg stehen muss: „Technischer Fortschritt kann auch mit einer kritisch-reflexiven Perspektive einhergehen.“ Es sei wichtig, in Digitalisierung zu investieren, aber der Schutz der eigenen Daten müsse im Vordergrund stehen. Gerhold sagt: „Digitalisierung kann auch den Verlust von Privatheit bedeuten und Nachteile für Nutzer haben.“
Die University of Leeds weiß viel über mich. Sie weiß, wie viele Stunden ich in der Bibliothek bin, denn dort komme ich nur rein, indem ich meinen Studentenausweis am Eingang scanne. Sie weiß, welche Bücher ich lese, in welcher Schlange ich stehe und wie oft ich meine Wäsche im Studentenwohnheim wasche. Die Universität darf diese Daten nicht an Dritte weitergeben und muss sie mit einem Passwort auf ihren Computern verschlüsseln. Kritisch sehe ich den Datenbesitz trotzdem.
Insbesondere in der Verwaltung sollte der Nutzen, den die Digitalisierung von Daten mit sich bringt, aber stärker berücksichtigt werden. Damit mir die in Großbritannien erbrachten Leistungen für mein Studium an der FU anerkannt werden, benötige ich zunächst eine Unterschrift aus Leeds, mit der ich zur Dozentin an der FU gehe, die mir eine schriftliche Anerkennungs-Bescheinigung ausstellt, die ich dann beim Prüfungsbüro des Fachbereichs einreichen muss. Es könnte digitaler und einfacher sein.