Wo Böhmermanns Video noch zu sehen ist
Zu den vielen Gewissheiten über das Internet, die keiner je hinterfragt, gehören auch die Sprüche „Das Internet vergisst nichts“ und „Einmal im Internet, immer im Internet“. Sie sollen davor bewahren, online allzu Privates preiszugeben, was man später vielleicht bereut. Aber stimmen die Sätze überhaupt? Vor 16 Tagen, wenige Stunden nach Ausstrahlung im Fernsehen, hat das ZDF Jan Böhmermanns Schmähgedicht aus seiner Mediathek gelöscht. Seitdem begnügen sich die Medien damit, das Video zu beschreiben oder daraus einzelne Sätze zu zitieren. Eine der drastischeren Schmähungen wird oft dahingehend abgekürzt, der türkische Staatspräsident Recep Erdogan würde am liebsten „Ziegen f***“, was natürlich auch füttern heißen könnte.
Das Vorgehen des ZDF
Glaubt man jedoch dem Nichts-vergessen-Spruch, müsste Böhmermanns Video eigentlich leicht auffindbar sein. Irgendwo da draußen im Datengewusel. Erster, naheliegender Gedanke: auf Youtube. Doch Enttäuschung. Das Video wird dort zwar täglich von verschiedenen Privatpersonen hochgeladen, aber innerhalb weniger Stunden von Youtube wieder gelöscht. Das tut der Konzern nicht etwa, weil er den Inhalt geschmacklos findet, sondern weil das Urheberrecht für die Bilder beim ZDF liegt. Youtube würde sich strafbar machen, löschte es die Dateien nicht.
Der Fernsehsender nutzt dabei Youtubes sogenanntes „Content-ID-System“. Das funktioniert so: Zu Beginn hat ein ZDF-Mitarbeiter einmalig das Original-Video als Referenz-Datei eingestellt – natürlich im Backend, der normale Nutzer kann es nicht sehen. Seit diesem Zeitpunkt bekommt das ZDF automatisch Meldung, sobald jemand ein Video hochlädt, das dem Schmähgedicht in Bild und Ton auch bloß ähnelt. Dann reicht ein Mausklick, um die Löschung zu beantragen. Wohlgemerkt: Dies ist kein Routine-Prozedere des ZDF. Tausende andere Programmausschnitte des Senders finden sich seit Jahren auf Youtube, ohne dass je eine Löschung beantragt wurde. Das ZDF geht also weiterhin ganz gezielt gegen das Schmähgedicht vor. Warum es so viel Energie darauf verwendet, das Video über den Umweg des Urheberrechts weitestmöglich aus dem Netz zu halten, sagt es nicht.
Wütende Männer
Was Youtube dagegen nicht entfernt, sind Videos von Männern (ja, es sind ausschließlich Männer), die sich selbst dabei filmen, wie sie mit großer Geste das Schmähgedicht vortragen. Im Wohnzimmer, im Hobbykeller, mit Bügelbrett im Hintergrund. Es sind Männer, die nicht aussehen, als würden sie sich sonst für Jan Böhmermanns intelligenten Humor interessieren. Es sind aufgebrachte Männer. Aggressive Männer. Man merkt ihnen an, dass sie ihre Rezitationen als Akt des Widerstands begreifen. Wer weiterklickt, findet Seiten, auf denen dieselben Männer über Israel schimpfen oder behaupten, die Amerikaner hätten 9/11 und Pearl Harbor inszeniert. Natürlich lassen sie bei ihren Erdogan-Gedichten auch den Kontext weg, nämlich die Erläuterungen, in die Jan Böhmermann sein Werk einbettete. Ihnen reicht die schnöde Türken-Beleidigung. Armer, missbrauchter Böhmermann.
Also weitersuchen. Der Deutschlandfunk hat sich auf seiner Onlineseite die Mühe gemacht, das Gedicht inklusive Erklärungen Wort für Wort niederzuschreiben. Doch ohne das schelmische Grinsen des Moderators, ohne die Diebesfreude in seinen Augen ist es nur halb so lustig. Zum Glück gibt es noch mehr Videoplattformen. Wer danach googelt, findet sie kaum. Man muss diese also gezielt ansteuern.
Widerstand aus Russland
Da ist zum Beispiel dailymotion.com, ein französischer Anbieter. Und tatsächlich: Dort gibt es Böhmermanns Schmähgedicht gleich mehrfach. Die beliebteste Kopie ist bereits 60 000 Mal angeschaut worden, sie wurde am 2. April hochgeladen, also am Tag, nachdem das Video aus der Mediathek entfernt wurde. Bei der ZDF-Pressestelle heißt es dazu, auch von den Franzosen habe man die Löschung verlangt. Warum dies bisher nicht geschah, sei unklar.
Bei rutube.com, einem populären Youtube-Klon aus Russland, finden sich ebenfalls Kopien des Schmähgedichts. Was daran liegen könnte, dass Rutube dem Konzern Gazprom gehört, also indirekt dem russischen Staat. Jede Wette, dass dort im Moment gar nichts gelöscht wird, was Recep Tayyip Erdogan ärgert.