Zimt und Zuckerberg
Im holländischen Hilversum hatte ein 13-Jähriger eine doofe Idee. Er ging in die Küche, stellte seine Handykamera an und stopfte sich einen Esslöffel Zimtpulver in den Mund. Er hatte auf Youtube gesehen, dass andere junge Menschen dies auch schon getan hatten, in den USA, Australien, Hongkong. Und dass es lustig aussieht, wenn sie - denn so reagiert der Körper üblicherweise - eine Riesenwolke Zimt herausprusten müssen. „Cinnamon Challenge“ heißt das. Zimt-Herausforderung. Der Holländer aber prustete nicht, sondern kollabierte und fiel ins Koma. Als er fünf Tage später in der Klinik erwachte, bat er seine Mutter, der Öffentlichkeit zwei Worte auszurichten: „nicht machen“.
Vom Eimer zu Marshmallows
Es fing vor anderthalb Jahren an. Damals filmten sich Menschen gegenseitig dabei, wie einer dem anderen einen Kübel Eiswasser überschüttete, sie stellten den Videobeweis unter dem Stichwort „Ice Bucket Challenge“ ins Netz. Der Unsinn hatte einen wohltätigen Zweck, so sollte auf die seltene Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose aufmerksam gemacht werden. Zehntausende beteiligten sich, auch Prominente wie Mark Zuckerberg oder Bill Gates. In Deutschland immerhin Joey Kelly.
Den Eiskübeln folgte eine Welle weiterer Mutproben, nun ohne Charity-Gedanken, dafür mit noch beknackteren Regeln. Eine kleine Auswahl: Bei der „Chubby Bunny Challenge“ stecken sich Teenager Marshmallows in den Hals. Bei der „Ice and Salt Challenge“ wird die Haut mit Salz bestreut, dann ein Eiswürfel draufgelegt, was als sehr schmerzhaft gilt. Bei der „Kylie Jenner Challenge“ pumpen Probanden ihre Lippen per Unterdruck in Gläsern oder Flaschen auf. Die „Gallon Challenge“ (vier Liter Milch trinken) und die „Banana and Sprite Challenge“ (zwei Bananen, eine Dose) enden zwangsläufig mit Erbrechen. Bei der „Duct Tape Challenge“ lassen sich Teilnehmer mit Klebeband zuschnüren, dann müssen sie sich befreien. Mehrere verletzten sich schwer, weil sie es im Stehen versuchten und stürzten.
Mutproben sind nichts Neues
Nun dürfte es Mutproben in allen Phasen der Menschheitsgeschichte gegeben haben. Die Bibel und Homers Odyssee sind voll davon, der schmächtige Uli aus „Das fliegende Klassenzimmer“ wäre vielleicht ewig weitergehänselt worden, hätte er sich nicht mit aufgespanntem Regenschirm vom Gerüst gestürzt. Neu ist eben, dass alle Leichtsinnigen im Netz auf tausendfachen Applaus von Fremden hoffen können. Und dass sie auf Youtube sehen, was andere bereits geschafft haben, mehr oder weniger unverletzt. Vor allem fehlt online meist die Mahnung, ohne die Thomas Gottschalk keine „Wetten, dass..?“-Folge bestritt: Versuchen Sie das bloß nicht zu Hause!
Psychologen geben jetzt der „Ice Bucket Challenge“ die Schuld. Sie sei zwar gut gemeint gewesen, habe aber Pandoras Büchse geöffnet. Und die Sorge vor neuen, noch gefährlicheren Mutproben ist so groß, dass manche dies auszunutzen wissen. Eine 13-jährige Französin, die von zu Hause abgehauen war, von der Polizei erfolglos gesucht wurde und nach 72 Stunden von allein wieder auftauchte, behauptete anschließend, sie habe an einer Challenge namens „Game of 72“ teilgenommen. Die bestehe darin, für eben exakt so viele Stunden unterzutauchen und sich von den Eltern suchen zu lassen. Die Lokalpresse berichtete, die britische „Daily Mail“ griff es auf und titelte: „Eltern über neues, grausames Facebook-Spiel entsetzt“. In Kanada verschickte die Polizei Warnungen per Twitter. Die Eltern der Wiederaufgetauchten dagegen suchten im Internet nach dem „Game of 72“ und fanden keinen einzigen Fall außer dem ihrer eigenen Tochter. Die gab dann zu, dass eine solche Challenge gar nicht existiert.