Der Berliner Spielplatz-Check
Der kleine Junge mit dem dunklen Wuschelkopf ist außer sich vor Freude, lacht und juchzt. Jetzt ist er, der mittlere von drei Geschwistern, endlich an der Reihe. Seine Mutter setzt ihn auf das Sitzteil der Seilbahn und er saust los, quer über den Spielplatz. Sein Vater rennt mit der Handykamera nebenher, um jeden Moment des Glücks einzufangen. Die Familie, Touristen aus Italien, ist seit einer halben Stunde mit der Seilbahn auf dem Spielplatz im Nelly-Sachs-Park in Schöneberg beschäftigt. Wer zusieht, hat das Gefühl, dass die Touristen hier gerade etwas vollkommen Ungewöhnliches erleben, etwas, das sie so nicht kennen – einen ganz normalen, wenn auch besonders schönen Berliner Spielplatz.
Schlusslicht unter den Bezirken ist Marzahn-Hellersdorf
Berlin sei ein „Spielplatz-Paradies“, erklärte kürzlich eine US-Amerikanerin mit Wohnsitz in Berlin den Lesern der New York Times. Im Vergleich zu den „langweiligen“ und gleichförmigen Spielplätzen in vielen Städten der USA gebe es hier ein breites Angebot unverwechselbarer Themen-Spielplätze, mit echtem Sand und Mulch als Unterlage statt Gummimatten, wie sie in den sicherheitsverliebten USA inzwischen üblich seien. Die Berliner Spielplätze seien „sportlich herausfordernd und ambitioniert im Design.“ Alles bestens also. Oder?
Berlin hat rund 1900 öffentliche Spielplätze, mehr als doppelt so viele wie Hamburg. Doch in der Relation Spielfläche pro Einwohner liegt die Hauptstadt weit hinter den eigenen Vorgaben zurück. Statt einen Quadratmeter Spielfläche pro Einwohner wie im Spielplatzgesetz festgehalten, erreicht die Stadt nur 0,6 Quadratmeter. 220 Hektar Spielplatzflächen gibt es, 340 Hektar sind das Ziel. Der Bau von neuen Spielplätzen kompensiert offenbar nicht einmal die neu entstandene Nachfrage, entstanden durch den Einwohnerzuwachs, deshalb verschlechtert sich die Relation seit einigen Jahren wieder, in Mitte von 0,72 auf 0,6, in Friedrichshain-Kreuzberg von 0,73 auf 0,66. In anderen Bezirken hat sich die Spielplatzversorgung hingegen verbessert: in Lichtenberg von 0,56 auf 0,74, in Reinickendorf von 0,43 auf 0,66 Quadratmeter pro Einwohner. Die Unterausstattung berlinweit sei „nicht optimal, aber durchaus akzeptabel“, erklärt Senatsbaudirektorin Regula Lüscher in einer Antwort auf eine Anfrage der Abgeordneten Katrin Möller.
Lüschers Aussage findet Möller, familienpolitische Sprecherin der Linken, wiederum völlig inakzeptabel. In Prenzlauer Berg seien die vorhandenen Spielplätze extrem überansprucht, auch, weil viele Kitas keine eigenen Spielflächen haben. Einen öffentlichen Spielplatz teilen sich bis zu zehn Kitas, in einem Fall soll es einen richtigen Belegungsplan geben. Als einen Ausweg hat Möllers Fraktion vorgeschlagen, privaten Bauherren die Anlage öffentlicher Spielplätze abzutrotzen, aber diese Änderung der Bauordnung wurde im Parlament abgelehnt. Bauherren müssen zwar je nach Größe des Vorhabens Spielflächen anlegen, aber diese müssen nicht öffentlich zugänglich sein.
Wo fehlen die meisten Spielplätze?
Die Karte zeigt die Kieze mit besonders hohem Spielplatzmangel in der Stadt. Klicken Sie auf einen Kiez, um den Versorgungsgrad mit öffentlichen Spielplätzen zu sehen.
In Pankow waren im Mai von 215 Spielplätzen 15 gesperrt
Der Zuwachs privater Spielflächen fließt nicht in die Spielflächenstatistik des Senats ein, deshalb halten viele Experten die Zahlen für wenig aussagekräftig. Marzahn-Hellersdorf ist mit 0,43 Quadratmetern Spielfläche das Schlusslicht unter den zwölf Bezirken – laut Stadtrat Christian Gräff aber nur deswegen, weil viele – oft öffentlich zugängliche – Spielplätze Genossenschaften oder Wohnungsbaugesellschaften gehören. „Die Statistik ist totaler Unsinn.“ Ein Defizit gebe es eher in Einfamilienhausgebieten, aber dort können Kinder oft in den heimischen Gärten toben und spielen.
Nicht alle vorhandenen, statistisch erfassten Spielplätze stehen allerdings tatsächlich zur Verfügung. In Pankow waren im Mai von 215 Spielplätzen 15 gesperrt. „Ein ganz guter Schnitt“, sagte Baustadtrat Jens-Holger Kirchner (Grüne). Die Gründe sind häufig defekte Spielgeräte, die bei den regelmäßigen Kontrollgängen der Grünflächenämter beanstandet wurden.
Der Bezirk haftet für etwaige Unfälle, sperrt also sofort alles ab. Bis repariert wird, dauert es lange, oft viele Monate, weil das vorhandene Geld schon anderweitig verplant ist. Der beliebte „Dschungelspielplatz“ in Prenzlauer Berg war jahrelang gesperrt, bis er endlich nach erheblicher Kritik von Anwohnern saniert und im Januar neu eröffnet wurde. Spielplätze werden auch wegen Rattenbefalls gesperrt oder weil Menschen im Sand Drogen verstecken oder Rasierklingen vergraben.
Das Ersatzschiff ließ lange auf sich warten
Bei einem kleinen Spielplatz auf der Halbinsel Stralau in Friedrichshain wurde Anfang 2015 ein hölzernes Kletterschiff mit Rutsche entfernt, erst vor kurzem tauchte ein Ersatzschiff auf. Bei dem benachbarten Spielplatz fehlt seit Langem die Seilbahn. Auf dem erst 2012 errichteten „Wasserspielplatz“ war die Solaranlage so oft defekt, dass das aufwendige Wasserspiel durch eine kleine Pumpe ersetzt wurde. Bei dem Spielplatz in der Kernhofer Straße in Lichtenberg wurde im Juli 2015 ein großes Holzhaus mit Rutsche abgebaut und nicht ersetzt. 2014 hat der Senat ein Spielplatzsanierungsprogramm aufgelegt, in dem jedes Jahr zehn Millionen Euro zur Verfügung stehen. „Ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Claudia Neumann, Referentin Spiel und Bewegung im Deutschen Kinderhilfswerk.
Aber Berlin sei auch nicht unterentwickelt in Sachen Spielplätze. „Einige Kommunen stehen besser da, haben bis zu drei Quadratmeter Spielfläche pro Einwohner, aber immerhin ist Berlin das einzige Bundesland mit einem Spielplatzgesetz“, sagt Neumann. Und mit einem großen Angebot an fantasievollen und abwechslungsreichen Plätzen nebst vier „Naturerfahrungsräumen“, wo Kinder mit den Angeboten spielen, die Bäume, Steine oder Käfer machen. Auch die Beteiligungskultur bei der Planung neuer Plätze sei vorbildlich.
In Neukölln darf weiter getrunken werden
In Neukölln-Nord beklagen Eltern vor allem Müll, Graffiti und schmutzigen Spielsand. Außerdem würden Spielplätze abends und an Wochenenden von Jugendlichen als Treffpunkt genutzt. Da wird geraucht, Musik gemacht, Alkohol getrunken, und die kleineren Kinder trauen sich nicht mehr hinein. In Neukölln ist das Trinken und Rauchen auf Spielplätzen anders als in anderen Bezirken nicht verboten. Der zuständige Stadtrat Thomas Blesing (SPD) hält ein solches Verbot für nicht durchsetzbar. Ein entsprechender Antrag der Grünen wurde 2012 in der BVV abgelehnt.
Die Personalkürzungen der vergangenen Jahre haben die Grünflächenämter besonders hart erwischt, daher wird nur noch das Nötigste erledigt, also die Sicherheitschecks, das Reparieren defekter Spielgeräte und das Einsammeln von Müll. In Neukölln wird der Spielplatz am Richardplatz dennoch seit Jahren als illegale Müllhalde missbraucht. In Marzahn-Hellersdorf stehen die Kürzungen beim Personal noch bevor. Stadtrat Gräff rechnet mit einer Halbierung der Stellen, wenn die Politik nicht zurückrudert. Die Planschen im Bezirk habe man schon geschlossen, weil ihre Wartung zu aufwendig geworden sei.
Mehr Angebote für Jugendliche?
Johanna Jäger, eine Mutter aus Tempelhof, ist „eher zufrieden“ mit den Spielplätzen in ihrer Umgebung – „bin überrascht, wie viele es gibt.“ Und so tolle wie den Eisenbahnspielplatz mit einer echten Lok – selbst wenn diese immerzu mit Graffiti beschmiert ist, stört dies die Eltern mehr als die Kinder. Natürlich könne man noch mehr machen: Trinkwasserspender und Toiletten aufstellen, oder eine abschließbare Kiste mit Buddelsachen. Mehr Angebote für Jugendliche und Erwachsene wünscht sich Jäger und liegt damit voll im Trend.
Am Nauener Platz in Wedding gibt es seit fünf Jahren eine „Bewegungsfläche“ mit Angeboten für alle Altersgruppen. Die Spielplatzkommission des Bezirks Mitte möchte generell von den starren Altersangeboten wegkommen. Auch Claudia Neumann möchte wegkommen von abgegrenzten Spielflächen. Spielen in der Stadt sollte möglichst auf vielen Flächen möglich sein, deshalb unterstützt das Kinderhilfswerk das Projekt einer temporären Spielstraße in Prenzlauer Berg, das gerichtlich gestoppt wurde. „Es gibt noch viele Flächenpotenziale“, sagt Neumann. Schulhöfe und Vereinsflächen könnten für die Allgemeinheit geöffnet werden. Die Stadtplanung sollte sich dem Thema Spielflächen mehr öffnen und die „Dominanz des Autoverkehrs“ zugunsten von „Quartiersplätzen“ weiter zurückdrängen. Stadträume zurückerobern zugunsten von spielenden Menschen, das sei eine „interdisziplinäre Frage“, findet Neumann. Und eine berechtigte Vision. (Mitarbeit: dma)
In Neukölln gibt es einen „Spielplatzführer“ zum Herunterladen. In anderen Bezirken sind die Informationen eher dürftig. In Mitte wollten die Bezirksverordneten ein Spielplatzportal einrichten, doch Stadtrat Carsten Spallek (CDU) stoppte das Projekt, es sei nicht finanzierbar. Die Eltern müssen sich also vorerst mit privaten Internetportalen wie ihrspielplatz.de, spielplatznet.de oder spielplatztreff.de begnügen.