Hier plant Berlin neue Radwege
Leipziger Straße, kurz vor Feierabend. Der Verkehr steht. Kein Weiterkommen. Fahrradfahrer versperren die Straße. Sie protestieren gegen die Verschleppung des Radfahrgesetzes im Berliner Senat. Vor dem Museum der Kommunikation übertreten die Demonstranten die Grenze zum geteerten Reich des Gegners: Für Radfahrer sei dies eine der gefährlichsten Ecken der Stadt, ruft der Fahrrad-Aktivist Heinrich Strößenreuther, in ein Mikrofon.
Das wütende Hupen der Autofahrer geht in ein monotones Dröhnen über. Aber heute macht hier niemand Platz. Da hilft kein Motorenheulen, kein Dauerhupen und aggressives Anrollen. Zu oft wurde den Berlinern Radfahrern in der Vergangenheit die Vorfahrt genommen, zu oft waren die Radwege zugeparkt, zu viele starben in den vergangenen Jahren auf den Berliner Straßen. Jeder der Anwesenden kann dazu Geschichten erzählen.
Muskeln gegen Motoren
Hunderte Daumen betätigen trotzig die Fahrradklingel. Die Frontenbildung in der Hauptstadt findet an diesem Donnerstagabend ihren akustischen Ausdruck. Schelle gegen Hupe. Muskelkraft gegen Motor. Rad gegen Auto. Vor zwei Jahren hatte die Initiative Volksentscheid Fahrrad in kurzer Zeit über 100.000 Unterschriften für eine „sichere und komfortable Radinfrastruktur“ gesammelt. Es kam aber nicht zur Abstimmung, da die rot-rot-grüne Koalition die Ziele der Initiative weitgehend übernahm. Zuletzt schien alles im Sinne der Aktivisten zu laufen: Im Februar dieses Jahres hatte der Berliner Senat das Radgesetz beschlossen, noch vor der Sommerpause sollte es das Abgeordnetenhaus durchwinken.
Es wäre das erste seiner Art in ganz Deutschland. Binnen zehn Jahren könnte Berlin durch ein umfassendes Gesamtpaket zur Fahrradhauptstadt werden: Geschützte und komfortable Radverkehrsanlagen, die Absicherung von Kreuzungen, ein lückenloses Netz und zusätzliche Abstellmöglichkeiten sind geplant.
Die SPD schreckt vor den Autofahrern zurück
Am Donnerstag vergangener Woche sollte die abschließende Beratung im Verkehrsausschuss stattfinden. Doch die SPD meldete im letzten Moment Bedenken an, da sie befürchtet, dass Autofahrer durch die Fahrradfreundlichkeit benachteiligt werden. „Eine Kampfansage an das Fahrrad in Berlin“, wettert Strößenreuther auf der Demonstration.
Ein Blick auf die Zahlen lässt erkennen, woher das Unrechtsgefühl bei den Aktivisten rührt. Autofahrer haben in Berlin das zwanzigfache an Fläche (58 Prozent) zur Verfügung, danach kommen die Fußgänger (33 Prozent) und weit abgeschlagen dahinter die Radfahrer (3 Prozent).
Das Missverhältnis besteht also fort, obwohl der Radverkehr kontinuierlich zunimmt. Verkehrszählungen zeigen an vielen Stellen der Stadt zunehmende Frequentierung. Insgesamt ist der Anteil in den vergangenen zehn Jahren um 36 Prozent gestiegen, mittlerweile werden 15 Prozent aller Wege in der Hauptstadt auf dem Rad zurückgelegt. Mehr als die Hälfte der Berliner Haushalte in der Innenstadt besitzt kein Auto mehr. Weniger als ein Drittel nutzt ein Kraftfahrzeug als Hauptverkehrsmittel.
Viele Schwerverletzte und Getötete sind Radfahrer
Trotzdem werden die Berliner Straßen nicht sicherer. Seit Jahren steigt die Anzahl der Verkehrsunfälle wieder an, zuletzt auf 143.424 im letzten Jahr. In nur 7069 Unfällen und somit dreieinhalb Prozent aller Fälle waren dabei Fahrradfahrer verwickelt. Doch von den insgesamt 2317 Schwerverletzten in der Statistik sind 627 Radfahrer (27 Prozent). Und von den 36 zu beklagenden Unfalltoten sind neun Radfahrer (25 Prozent). Bei vier von fünf Fahrradunfällen waren Kraftfahrzeuge beteiligt. Die verletzten und getöteten Personen sind beinahe ausschließlich Radfahrer.
Bereits am Tag nach der Spontan-Demonstration wurde an einer berüchtigten Kreuzung in Berlin-Charlottenburg wieder eine Radfahrerin von einem Sattelschlepper überrollt und lebensgefährlich verletzt. Schon vor zwei Jahren starb an dieser Kreuzung eine Frau. Kerstin Stark vom Volksentscheid Fahrrad hatte damals gesagt: „Es macht uns ohnmächtig und wütend, dass wieder eine Radfahrerin sterben musste. Berlin braucht das Radgesetz dringend.“
Doch auch unabhängig vom Radgesetz, da sind sich die meisten Planer einig, werden die Opferzahlen erst wieder sinken, wenn Radfahrer mehr eigene Wege zur Verfügung haben. Und mit neuer und sichererer Radinfrastruktur könnte bereits vor der Verabschiedung des Radgesetzes begonnen werden. Der Tagesspiegel hat sich deshalb an die Berliner Politik gewandt und einmal nachgefragt, wo in jüngster Vergangenheit neue Radverkehrsanlagen angelegt wurden, wo sich Projekte im Bau befinden und wo in Zukunft neue Anlagen geplant sind.
»Kein systematischer Überlick«
Die Beantwortung scheint schwierig zu sein. Für eine Aufstellung verwies der Senat auf die Bezirke, da nur diese einen detaillierten Überblick hätten. Deren Reaktionen unterschieden sich jedoch stark voneinander. Während Bezirksämter wie Friedrichshain-Kreuzberg Daten zu knapp 50 geplanten oder im Bau befindlichen Projekten lieferten, teilte Charlottenburg-Wilmersdorf mit, dass der Bezirk „zurzeit keine neuen Radwege plant.“ Der Stadtrat für Stadtentwicklung in Pankow, Vollrad Kuhn, erklärte gar, dass es „keinen systematischen Überblick“ in seinem Bezirk gäbe, die Bezirksstadträtin von Tempelhof-Schöneberg Christiane Heiß prangerte die „unrealistische Erwartungshaltung“ an, dass „bauliche Maßnahmen binnen Jahresfrist umzusetzen wären“. Erfolge ließen sich zudem schlecht in Kilometern und Karten darstellen.
Zuletzt einigte sich die Koalition dann doch noch: Nach einem plötzlichen elfseitigen Änderungspapier der SPD und Erwiderungen der Koalitionspartner, soll das Mobilitätsgesetz nun doch noch vor der Sommerpause im Abgeordnetenhaus verabschiedet werden. Der ADFC bemängelt einige der Änderungen dabei als extrem problematisch. So soll der Infrastrukturausbau in Berlin künftig weiter nach Nutzungsverhalten gebaut werden. In der Praxis bedeute das, so der ADFC: “Je mehr Autos, desto mehr Straßen und Parkplätze werden gebaut.” Solche Planung sei zum Scheitern verurteilt, weil durch die wachsende Stadt in Berlin jedes Jahr zehntausende Autos hinzukommen.
Also protestieren die Aktivisten weiter. Auf der Sternfahrt diesen Sonntag soll wieder gezeigt werden: Die Radfahrer in Berlin haben noch lange nicht genug. Und während die Karte zeigt, dass die Planer in den Verwaltungen und Behörden der Stadt durchaus schon jetzt einiges auf den Weg gebracht haben, muss man sich aber doch fragen: Wenn nicht in Kilometern, wie will die Politik die versprochenen Erfolge für die Berliner Radfahrer eigentlich dann sichtbar machen?
Interaktiver Zeitstrahl
Ein Rückblick auf die Debatte um das Berliner Radgesetz – von der Versammlung einiger Radaktivisten, über den Rad-Volksentscheid, bis hin zum aktuellen Stand im Abgeordnetenhaus.
Erstes Vernetzungstreffen
Vorstellung der zehn Ziele
Unterschriftensammlung beginnt
Fahrradkorso des Triumphs
Abgeordnetenhauswahl
Das große Versprechen
Verhandlungsauftakt
Neue Mobilität für Berlin?
Berliner Senat verabschiedet Mobilitätsgesetz
Volksentscheid Fahrrad wird ausgezeichnet
SPD sieht Beratungsbedarf
Die Koalition rauft sich zusammen
Welche Daten werden auf der Karte angezeigt?
Die geplanten Baumaßnahmen, die in der Karte angezeigt werden, basieren auf den Antworten der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, sowie der einzelnen Bezirksämter (Stand 25. Mai 2018). Die bestehenden “Radverkehrsanlagen” stammen aus dem Geoportal Berlin der Senatsverwaltung (Stand 10.4.2017). Das Berliner Straßennetz, welches als Grundlage angezeigt wird, basiert auf dem Datensatz Geoportal Berlin/Detailnetz Straßenabschnitte (Stand: 20.12.2017). Diese Daten werden im Auftrag der Stadt von der Betreiberin der Verkehrsinformationszentrale (VIZ) des Landes Berlin, der VMZ Berlin Betreiber-GmbH gepflegt.
Die Bezirksämter Treptow-Köpenick, Reinickendorf und Spandau haben trotz mehrfacher Nachfrage bis heute nicht beantworten können, ob und wo neue Radverkehrsanlagen geplant sind. Wir freuen uns über Hinweise und Verbesserungsvorschläge und werden die Darstellung in nächster Zeit kontinuierlich überarbeiten.
Über das Projekt
Diese Multimedia Story ist die erste Veröffentlichung aus dem Projekt RADMESSER. Mithilfe neuer Datenerhebungsverfahren und Visualisierungsformen widmet sich in diesem Rahmen ein interdisziplinäres Team im nächsten halben Jahr ausführlich der Sicherheit von Radfahrern im Berliner Verkehr. Das Projekt RADMESSER wird gefördert vom Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ). David Meidinger ist derzeit im Rahmen eines Google News Lab Fellowship für den Tagesspiegel tätig.