Auf den Spuren der Anderen. Sind Busspuren als Radwege geeignet? Bild: Thilo Rückeis.

Die fragwürdigsten Radwege Berlins

Es soll mehr Radwege geben. Aber was gilt als Radweg? Reaktionen unserer Leser zeigen: Gerade bei Busspuren gehen die Meinungen weit auseinander. Eine interaktive Hilfe.

Es reicht gerade noch zum Bremsen. Links der schwerfällige Gelenkbus, rechts der hohe Bordstein. Dazwischen ein Radfahrer. Fast hätte es ihn erwischt. Immer wieder berichten Leserinnen und Leser dem Tagesspiegel von solch gefährlichen Begegnungen mit anderen Verkehrsteilnehmern auf Busspuren.

Am 31. Mai veröffentlichte der Tagesspiegel eine interaktive Karte, auf der die bestehenden und geplanten Radverkehrsanlagen (RVA) in Berlin verzeichnet sind. Schon kurz nach der Veröffentlichung entbrannte in den sozialen Netzwerken und zahlreichen Mails an die Redaktion eine Diskussion darüber, was als Radweg bezeichnet werden dürfte. Größter Streitpunkt: Busspuren, die für Radfahrer freigegeben sind.

Die Analyse orientierte sich in der Karte an den Daten, die die Berliner Senatsverwaltung zur Verfügung stellt. Demnach kann eine Radverkehrsanlage ein baulicher Radweg mit und ohne Benutzungspflicht sein, ein gemeinsamer Geh- und Radweg, ein Radfahrstreifen, ein·Schutzstreifen oder eben ein freigegebener Bussonderfahrstreifen.

Das sehen viele sehr anders: „Eine freigegebene Busspur. Das zähle ich nicht als Radverkehrsanlage“, schrieb beispielsweise Dominic Jefferies auf Twitter. Der User urbanikus merkte an: „Wenn Radverkehrsanlage auch bedeutet ‚Fahr auf der Busspur’, dann stimmt die Karte“. Und Pascal Ernster schrieb: “Im Zweifelsfall wird “Radverkehrsanlage” aber bloß ein Euphemismus sein für “da war wer mit nem Eimer Farbe”.

Wer darf in der Spur bleiben?

Tatsächlich ist vor allem die Sache mit den Busspuren gar nicht so einfach. Eigentlich sind die Bussonderfahrstreifen ausschließlich für Linien- und Schulbusse reserviert und sollen gewährleisten, dass der öffentliche Verkehr fahrplanmäßig vorankommt. Seit 1970 gibt es sie in Berlin, ihre Gesamtlänge beträgt heute 116 Kilometer. Und in den kommenden Jahren sollen diese Straßenabschnitte laut Senat verdoppelt werden.

Für viele Berliner Fahrradfahrer ist es heute eine Selbstverständlichkeit, die Busspur mitzubenutzen. Der Straßenverkehrsordnung zufolge ist das jedoch eigentlich verboten. Radler müssen, ebenso wie Autofahrer, 15 Euro Strafe zahlen, wenn sie den Streifen unbefugt benutzen. Und laut Bußgeldkatalog kann es noch teurer werden: So werden gar 35 Euro fällig, wenn der Linienverkehr behindert wird, 70 Euro bei Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer und 85 Euro bei Verursachung eines Unfalls.



Radfahrer dürfen diese Spur aber nutzen, wenn sie unter dem Verkehrszeichen mit dem weißen Bus auf blauem Grund ein Zusatzschild mit der Aufschrift „Fahrrad frei“ finden. In Berlin ist das auf 86 Kilometern der Fall, das sind Dreiviertel der gesamten Bussonderfahrstreifen. Ob die meisten Radfahrer auf die Zusatzschilder wirklich achten oder wie gut erkennbar sie angebracht sind, ist fraglich.

Die Regeln der Verwirrung

Doch die Sache wird noch konfuser. Man könnte schlussfolgern, dass Busspuren dort für Radfahrer freigegeben sind, wo es keine Radwege gibt. Mitnichten! An mehreren Stellen der Stadt gibt es Busspuren, die für Fahrräder freigegeben sind, obwohl parallel dazu ein Fahrradweg verläuft. Die Senatsverwaltung schreibt dazu auf Anfrage: “Die Radfahrenden haben dann die Wahl: Entweder sie benutzen den Radweg oder die Fahrbahn. Bei Nutzung der Fahrbahn sollen sie zu ihrer Sicherheit den Bussonderfahrstreifen nutzen.”

Das Problem wurde noch häufiger, seitdem 1998 die Straßenverkehrsordnung so geändert wurde, dass Radwege nur noch mit eindeutigem Schild benutzungspflichtig sind. 2010 gewann der ADFC dann sogar eine Klage, nachdem so eine Benutzungspflicht auch nur noch im Ausnahmefall überhaupt eingerichtet werden darf.

Auf solchen Abschnitten haben Radfahrer jedes Recht, selbst zu entscheiden, welche Bahnen sie nutzen wollen. Leider wissen das einige Autofahrer anscheinend nicht. Weitere Erfahrungsberichte von Lesern erzählen davon, wie Autofahrer Radfahrer in solchen Fällen penetrant zu “erziehen” versuchen und lautstark darauf hinweisen, dass sie doch gefälligst auf den Radweg zu wechseln hätten. Fälschlicherweise.

Interaktive Karte

Damit zumindest etwas mehr Klarheit herrscht, haben wir einmal alle Fälle dieser Doppelbelegung verzeichnet, die wir manuell und automatisch finden konnten. Die Karte zeigt also, wo in Berlin nicht-benutzungspflichtige Radwege neben Busspuren verlaufen. Klicken Sie auf einzelne Abschnitte, um mehr Informationen zum Wegabschnitt zu sehen!

Es wird noch enger

Nach Angaben der BVG hat der Radverkehr auf Bussonderfahrstreifen in den vergangenen Jahren erkennbar zugenommen. Doch auch andere Fahrzeuge wie Krankenfahrzeuge und Taxis sind auf vielen dieser Abschnitte zugelassen und Autofahrer nutzen sie, trotz Verbot, gerne als Ausweichstrecke im Berufsverkehr.

Um das Problem zu lösen, drängte die Initiative Volksentscheid Fahrrad darauf, dass Radwege und Busspuren baulich voneinander getrennt werden müssen. Denn wie unser Beispiel zu Beginn veranschaulicht, kommt es bei Mehrfachnutzung vor allem an Bushaltestellen zu lebensgefährlichen Szenen. Während der Bus die Passagiere aufnimmt, müssen Radfahrer oft in waghalsigen Manövern am Fahrzeug vorbei. Auch dieses Problem wird, beispielsweise vom ADFC, schon seit Jahren immer wieder angeprangert.

Auf Anfrage teilt der Senat mit, dass das geschilderte Problem nur bei Busspuren in „Randlagen“ auftrete, also dort, wo sie direkt am rechten Straßenrand verlaufen. Dort sind die Bussonderfahrstreifen in der Regel nur dreieinhalb Meter breit. In „Mittellage“ hingegen, also wenn die Busspuren in der Mitte der Straße verlaufen, sei ausreichend Platz für einen Überholvorgang gewährleistet. Diese Besonderheit ist momentan aber nur bei einem Bruchteil der Anlagen der Fall. 

Grundsätzlich, betont der Senat, sollen Bussonderfahrspuren in Zukunft eine Mindestbreite von 4,75 Meter haben. Aktuell sei beispielsweise in der Hardenbergstraße nach Abschluss der U-Bahn-Sanierung die Einrichtung eines fünf Meter breiten Bussonderfahrstreifen geplant.

Trennungspläne

Mit dem Berliner Mobilitätsgesetz, das nun verabschiedet wurde, soll künftig ohnehin eine Separierung von Öffentlichem Nahverkehr und Radverkehr zum Standard werden. Auch die BVG unterstützt diesen Vorschlag: „Die beste Lösung ist aus unserer Sicht, wenn Busse und Radfahrer jeweils eigene Spuren haben, auf denen sie sich umweltfreundlich, sicher, zügig und möglichst ohne Hindernisse durch die Stadt bewegen können, nötigenfalls zu Lasten des Autoverkehrs“, teilte ein Sprecher mit.

Wie sich solche Pläne gegen den motorisierten Teil der Bevölkerung in den einzelnen Stadtteilen durchsetzen lassen, wird sich zeigen müssen. Die Fronten sind verhärtet, schließlich teilen Bus- und Radfahrer schon jetzt ein gemeinsames Schicksal: Falsch geparkte Autos auf ihren Spuren.



Welche Daten werden auf der Karte angezeigt?

Die bestehenden “Radverkehrsanlagen” stammen aus dem Geoportal Berlin der Senatsverwaltung (Stand 10.4.2017).

Sollten Sie noch weitere Fälle kennen, in denen Radwege ohne Benutzungspflicht neben Busspuren verlaufen, die für Radfahrer freigegeben sind, schreiben Sie uns bitte eine Mail an digital@tagesspiegel.de. Bitte beachten Sie, dass wir Hinweise nur berücksichtigen können, wenn Sie genau angeben, von wo bis wo der entsprechende Weg führt und einen Beleg mitsenden.

Über das Projekt

Diese Multimedia Story ist die erste Veröffentlichung aus dem Projekt RADMESSER. Mithilfe neuer Datenerhebungsverfahren und Visualisierungsformen widmet sich in diesem Rahmen ein interdisziplinäres Team dieses Jahr ausführlich der Sicherheit von Radfahrern im Berliner Verkehr. Das Projekt RADMESSER wird gefördert vom Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ). David Meidinger ist derzeit im Rahmen eines Google News Lab Fellowship für den Tagesspiegel tätig.