Wie fit sind Berlins Erstklässler?
Die Berliner Kitas gelten als verbesserungswürdig – und dennoch leisten sie den wichtigsten Beitrag für die Vorbereitung auf die schulische Laufbahn. Nur der soziale Status beeinflusst die Erfolgschancen vergleichbar stark wie der Besuch einer Kindertagesstätte. Dies ist das zentrale Ergebnis des jüngsten Einschulungsberichts für alle rund 30000 Berliner Fünfjährigen. Die Bedeutung des Migrationshintergrunds und Geschlechts treten als Einflussfaktoren weit hinter der Rolle der Kita zurück, wenn es darum geht, die Kinder gut auf die Schule vorzubereiten. „Jede Kita ist besser als keine“, fasst der leitende Kinderarzt vom Gesundheitsamt Mitte, Matthias Brockstedt, die Befunde zusammen.
Seit 2005 werden die Berliner Kinder nach derselben nahezu unveränderten Methode im Jahr vor der Einschulung von den Bezirksärzten untersucht; die Senatsverwaltung für Gesundheit wertet die Ergebnisse aus, stellt sie in einem ausführlichen Bericht zusammen und zieht Vergleiche mit den Vorjahren. Der aktuellste Bericht, der hier vorgestellt wird, enthält die Zahlen von 2013. Der Tagesspiegel hat die Daten ausführlich ausgewertet. Einige der Ergebnisse sehen Sie auf der interaktiven Karte oben.
Die Karte gibt bereits einen groben Überblick. Einige der Daten verdienen jedoch eine genauere Betrachtung, die Sie im Folgenden finden:
Die Kita und die Sprache
Unter den Kindern nichtdeutscher Herkunft sprechen zwei Drittel gar nicht oder kaum Deutsch, wenn sie keine Kita besucht haben. Nach einem mindestens zweijährigen Kitabesuch sinkt dieser Anteil auf nur 3,7 Prozent. Der Unterschied beträgt mithin weit über 60 Prozent.
Betrachtet man nur die deutschstämmigen Kinder sowie die Migranten, die (sehr) gut Deutsch sprechen können, macht der Kitabesuch immer noch einen Unterschied von knapp 50 Prozent. Etwas weniger entscheidend, aber ebenfalls wichtig ist die soziale Herkunft: Um fast 47 Prozent klaffen die Sprachfähigkeiten auseinander je nachdem, ob die Eltern Akademiker sind und voll arbeiten („obere Statusgruppe“) oder ob sie keinen Schulabschluss haben und arbeitslos sind („untere Statusgruppe“). Der Migrationshintergrund ist etwas weniger bedeutsam, erzeugt aber dennoch einen Unterschied in der Sprachkompetenz von über 40 Prozent. Als letzter Faktor kommt noch das Geschlecht ins Spiel: Mädchen sprechen um 4,3 Prozent besser als Jungen.
Die Verfasser des Berichts nennen als Gründe „für diese erfreuliche Entwicklung“ zum einen die verstärkten Anstrengungen im Bereich der vorschulischen Sprachförderung. Zum anderen spiele aber auch „das allgemeine öffentliche Bewusstsein hinsichtlich der Bedeutung des Erwerbs der deutschen Sprache für die Teilhabechancen“ eine wichtige Rolle.
Bedeutsam ist auch, dass sich der Anteil der gut oder sehr gut Deutsch sprechenden Migranten seit 2006 um fast zehn Prozent gesteigert hat. Dieser Anteil ging allerdings seit 2012 – möglicherweise als Folge der verstärkten Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien – wieder leicht zurück. Die Verwaltung will diese Entwicklung verstärkt beobachten.
Wie kommt das “O” aufs Papier?
Damit ein Kind abmalen, ausschneiden oder schreiben lernen kann, ist es von elementarer Bedeutung, dass es das, was es sieht, direkt in Handbewegungen umsetzen kann. Andernfalls wird es schon damit Probleme haben, einen Buchstaben zu Papier zu bringen, den der Lehrer an die Tafel geschrieben hat. Ob diese sogenannte Visuomotorik (Auge-Hand-Koordination) funktioniert, hängt sehr stark von der Frühförderung ab: Wenn ein Kind viele Möglichkeiten geboten bekommt, zu klettern oder mit Bauklötzen zu spielen, wenn es frühzeitig über Malstifte verfügen kann, wenn es häufig puzzelt oder bastelt, hat es gute Voraussetzungen dafür, dass die Koordination von „Sehen“ und „Tun“ funktioniert.
Auch diese Voraussetzungen werden vor allem in der Kita geschaffen. Um fast 30 Prozentpunkte unterscheiden sich die visuomotorischen Leistungen von Kindern, die keine Kita besucht haben, und denen, die dort länger als zwei Jahre gefördert wurden. Zum Vergleich: Der soziale Status beeinflusst diese Fähigkeit zu fast 26 Prozent, das Geschlecht trägt sechs Prozent Unterschied bei und der Migrationshintergrund fünf Prozent.
Drei rote Äpfel
Rot, blau, grün: Selbst deutschstämmige Kinder wissen mitunter nicht, was es mit diesen Worten auf sich hat. Die gängigen Kinderspiele, mit denen die Farben leicht gelernt werden können, gehören eben nicht in allen Familien zum festen Repertoire. Wenn es massiv an Förderung fehlt, haben die Fünfjährigen außerdem keine Vorstellung von Formen, Größen, Entfernungen, Bewegungen oder Strukturen. Ob eine Maus größer ist als ein Elefant oder schneller läuft als eine Schnecke – diese Fragen stellen jedes fünfte Kind vor große Probleme, weil es mangels Frühförderung nicht über die notwendige visuelle Wahrnehmung verfügt.
Zusätzlich gehandicapt sind die Kinder, falls sie auch mit Mengenangaben nichts anfangen können: Wenn die Schulärzte vor sich auf den Tisch ein paar Äpfel legen und wissen wollen, ob ein Apfel mehr ist als drei, weiß jedes zehnte Kind darauf keine Antwort. Auch hier gilt: Kitabesuch und Sozialstatus sind entscheidend für das Mengenvorwissen.
Was seit 2005 passiert ist
Noch deutlicher wird die überragende Rolle der Kita, wenn man die Veränderungen seit 2005 betrachtet: In dieser Zeit stieg der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund von 31 auf 38 Prozent und gleichzeitig gelang es, den Anteil der fünfjährigen Migranten, die gut oder sehr gut Deutsch sprechen, von 55 auf 66 Prozent zu steigern. Die Kinderärzte der Gesundheitsverwaltung führen das nicht zuletzt darauf zurück, dass in dieser Zeit der Anteil der Kinder, die über zwei Jahre eine Kita besuchten, von 81 auf 88 Prozent gestiegen ist.
Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man nur die Kinder – mit und ohne Migrationshintergrund – betrachtet, die Deutsch sprechen. Jedes vierte Kind dieser Gruppe hat eine Kombination verschiedener Sprachprobleme. Dazu gehören beispielsweise Schwierigkeiten, Sätze nachzusprechen, Worte zu ergänzen oder den Plural zu bilden. Seit 2005 hat sich an diesem Befund nichts verändert. Auch hier hat man es mit einem sozialen Phänomen zu tun, weshalb auch ein Bezirk mit einer geringen Migrationsquote von nur 16,5 Prozent wie Marzahn-Hellersdorf eine 30-Prozent-Quote bei den Sprachdefiziten hat. Zum Vergleich: Pankow hat fast die gleiche Migrantenquote wie Marzahn-Hellersdorf, aber nur zehn Prozent Kinder mit Sprachdefiziten.
Arm, ärmer, am ärmsten
Wenn man die Daten zur Bildung und zur Berufstätigkeit der Eltern den Bezirken zuordnet, ergibt sich eine Stadtkarte der sozialen Lage. Besonders deutlich klaffen Pankow und Neukölln auseinander: In Pankow stammen nur knapp fünf Prozent der Eltern aus der sozial unteren Schicht, in Neukölln aber 38,5 Prozent.
Für die Kinder hat der soziale Status der Eltern schwerwiegende Folgen – nicht nur für den Schulerfolg, sondern auch für die Gesundheit: Je ärmer die Eltern, desto größer das Risiko für die Kinder, krankhaft dick – adipös – zu sein oder unter schlechten Zähnen zu leiden: Jedes achte Kind aus der unteren Schicht hat bereits Zähne wegen Karies verloren oder hat schon im Kindergartenalter abgefaulte Zähne. Einem rauchenden Elternteil ausgesetzt zu sein, passiert in der sozialen Oberschicht nur jedem achten Kind, aber fast jedem zweiten aus der unteren Sozialschicht.
Unbestritten ist unter Fachleuten, dass es Kindern schadet, täglich über längere Zeit fernzusehen. Diesem Risiko sind die Kinder aus sozial prekären Lagen besonders stark ausgesetzt: Jedes fünfte Kind hat hier einen eigenen Fernseher, in berufstätigen Akademikerfamilien ist das nur bei 1,5 Prozent der Kinder der Fall. Entsprechend gestaltet sich die Dauer des Fernsehkonsums: In der unteren sozialen Schicht sieht mehr als jedes dritte Kind bis zu zwei Stunden fern, in der oberen Schicht nicht einmal jedes zehnte.
Was die Lage der Kinder aus prekären Verhältnissen noch verschlimmert: Ausgerechnet sie werden von ihren Eltern seltener zu ärztlichen Früherkennungsuntersuchungen gebracht, sodass Defizite nicht bemerkt und somit auch nicht bekämpft werden können. Besonderheiten der Migration
In Berlin haben 37,6 Prozent der Erstklässler einen Migrationshintergrund. Ihr Anteil in den Bezirken schwankt zwischen zwölf Prozent in Treptow-Köpenick und 68,5 Prozent in Neukölln. Jedes zehnte Berliner Kind ist türkischer Herkunft. Am stärksten wächst der Anteil der arabischstämmigen Kinder. Den Grund dafür zeigt der Einschulungsbericht: Zwei Drittel der arabischstämmigen Familien haben drei oder mehr Kinder. Bei den türkischen Familien liegt dieser Anteil bei knapp 40 Prozent und bei den deutschstämmigen Familien bei knapp 20 Prozent. Fünf Kinder oder mehr hat jede siebte Familie mit arabischem Hintergrund.
Gleichzeitig gehört aber jede zweite türkisch- oder arabischstämmige Familie mangels Bildung und Arbeit zur Gesellschaftsschicht mit niedrigem sozialen Status. Dadurch sind die Kinder überproportional all den Risiken ausgesetzt, die mit Armut einhergehen: ungesunde Ernährung, hoher Fernsehkonsum, wenig direkte Ansprache, kaum gemeinsame Spiele oder Vorlesen. Wenn diese Kinder dann beim Schularzt sitzen und einen Menschen malen sollen, landet auf dem Blatt Papier oftmals nur ein unförmiger Kreis mit angehängten Strichen: So zeigen sich die Folgen der mangelnden Visuomotorik. Besser geförderte Kinder können in diesem Alter schon gut erkennbar Männer, Frauen oder Prinzessinnen malen.
Die Chancen auf einen erfolgreichen Schulstart sinken bei den türkisch- und arabischstämmigen Familien noch dadurch, dass sie ihre Kinder wesentlich seltener mehr als zwei Jahre in die Kita schicken: Bei den arabischstämmigen Familien ist dies nur bei drei Viertel der Kinder der Fall.
Kleinteilige Stadtkarte
Bei der Einschulungsuntersuchung werden die Ergebnisse nicht nur den zwölf Bezirken, sondern – wesentlich kleinteiliger – 60 „Prognoseräumen“ zugeordnet. Sie verlaufen weitgehend entlang der Grenzen der Ortsteile wie Biesdorf oder Lichtenrade, mitunter werden Ortsteile aber auch zerschnitten wie etwa im Fall von Lichterfelde. Der Bericht zeigt für jeden einzelnen dieser Räume, wie sich die Kitabesuchsdauer, die Sprachkenntnisse, das Übergewicht, die Zahngesundheit, das Fernsehverhalten, der Impfstatus oder der Sozialindex unterscheiden.
Ausblick
Angesichts der großen Bedeutung des Kitabesuchs für die sprachliche und kognitive Entwicklung will die Berliner Kolition erreichen, dass mehr Kinder längere Zeit in eine Kita gehen und dass mehr Erzieherinnen für die kleinen Kinder da sind. Daher wurde beschlossen, dass künftig nicht nur der Kita-, sondern auch der Krippenbesuch gebührenfrei sein soll. Außerdem soll die Personalausstattung in den kommenden Jahren besser werden. Eine Kitapflicht ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, allerdings müssen Kinder, die kein Deutsch sprechen, an einer Sprachförderung teilnehmen.
Die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen des Jahres 2014 will die Gesundheitsverwaltung Anfang 2016 präsentieren.