Wahl-Kämpferinnen. Fränzi Kühne und Elena Mertel wollen mit ihrem Team junge Nichtwähler zur Briefwahl motivieren. Foto: promo

Digitaler Einsatz für die analoge Wahl

Junge Digitalagenturen in Berlin entdecken zur Wahl ihre politische Seite. Sie wollen Menschen wieder zum Wählen bringen. Mit teils ungewöhnlichen Ideen.

„Döner. Burger. Konterbier“, steht fettgedruckt auf einem Aufkleber an einem Laternenpfahl. Der Pfahl steht am Kottbusser Tor und unter dem Spruch steht „Sonntag hab ich was Besseres vor“. Gemeint ist die Bundestagswahl 2017 am 24. September. Doch der Aufkleber will nicht dazu motivieren, dem Heer der Nichtwähler beizutreten, sondern genau das Gegenteil. Denn ebenfalls darauf steht #Briefwahl2017. Die Aussage: Kein Mensch zwingt einen, ins Wahllokal zu gehen, um einen Wahlzettel auszufüllen. Aber Wählen kann man trotzdem. Ausgedacht haben sich das Ganze ein paar Vollzeitkreative einige Meter weiter, im Hinterhof des Paul-Linke-Ufer 39, zweiter Hinterhof. Dort sitzt TLGG, eine Digitalagentur und Unternehmensberatung, die in den vergangenen neun Jahren seit ihrer Gründung auf 170 Mitarbeiter gewachsen ist. Normalerweise betreut man Firmen wie Astra, Eon oder die Deutsche Bahn. Im Wahlkampf betreut man Nichtwähler. Warum?

Motivation für die Wahlfaulen

Fränzi Kühne ist eine der drei Gründerinnen. Sie sagt: „Als letzten Herbst nacheinander erst der Brexit und dann Trump kamen, dachten wir uns, wir müssen irgendwas zur Wahl in Deutschland machen.“ Zu klar war geworden, dass das mit der Demokratie nicht für immer so bleiben muss, sagt die 34-Jährige: „Also haben wir die Idee vor allen 170 Mitarbeitern in der Agentur gepitched. Da ging es dann schnell darum, dass viele unsere Ängste teilen.“ Und plötzlich diskutierte die Belegschaft über Hierarchien hinweg über Politikverdruss und was man dagegen machen könnte, erinnert sich Elena Mertel, die das Projekt leitet. “Am Schluss haben wir beschlossen, uns auf junge Nichtwähler zu konzentrieren, die eher aus Bequemlichkeit oder Verpeiltheit nicht wählen“, sagt Mertel.

Es wurden Studien dazu gewälzt, was der häufigste Grund ist, dass Wahlberechtigte unter 30 nicht wählen. Laut einer Forsa-Umfrage von 2013 führen vor allem drei Gründe dazu, dass Menschen nicht wählen. Erstens: Das Wahlsystem ist zu kompliziert. Zweitens: Ich habe schon was anderes vor. Drittens: Meine Stimme ändert sowieso nichts. Weil das TLGG-Team glaubt, dass es schon gute Initiativen gibt, die die Bedeutung des Urnengangs an sich vermitteln, beschloss man, sie zu ergänzen und sich auf Themen und Botschaften zu konzentrieren, die die letzte Zielgruppe ansprechen. Die Botschaft an sie: Nutze deine Stimme, aber nutze sie, wann du willst!

Schnoddrige Sprüche und Erklärvideos

Mitmachen. Neben Fränzi Kühne und Elena Mertel beteiligen sich ganz unterschiedliche Mitarbeiter an der Briefwahl-Kampagne.

Mit Partnern wie dem Musikmagazin Intro, der Kondomfirma Einhorn oder der Deutschen Bahn versucht die Kampagne nun, mit schnoddrigen Sprüchen, Erklärvideos und Influencern in den Sozialen Netzwerken, die Briefwahl stärker ins Bewusstsein zu bringen. „So lange man nicht auf digitalem Wege noch einfacher wählen kann, ist die Briefwahl schlicht die bequemste Alternative“, sagt Kühne, die schon seit Jahren ihre Stimme auf dem Postweg abgibt: „Dann kann man auch guten Gewissens am Wahlsonntag Netflix gucken, statt rauszugehen.“

Und was ist das geschäftliche Interesse der Agentur hinter der Aktion? „Tatsächlich in diesem Fall keines“, sagt Kühne, die Agentur und alle Kooperationspartner machten das vollkommen ehrenamtlich: „Es geht in dem Fall wirklich nur darum, mit unseren ganzen kreativen Köpfen einen positiven Beitrag zu leisten.“

Das Tinder-Prinzip

Swipen durch die Wahlprogramme. Die App WahlSwiper verbindet die Funktionsweise von Wahl-O-Mat und Tinder.

Etwas gegen den Politfrust unternehmen wollten auch drei Jungs am anderen Ende der Stadt. Im Gegensatz zu TLGG befindet sich das Büro ihrer „Agentur für digitale Markenkommunikation“ an einem weniger szeneträchtigen Ort. Auch ein modisch gekleideter Empfangsjunge und Vintage-Backsteinwände fehlen in ihrem knapp 30 Quadratmeter großen Raum unweit vom U-Bahnhof Blissestraße. Die Idee der drei ist aber mindestens genauso gut. Sie geht so: Warum sind eigentlich Dating-Apps wie Tinder so angenehm zu bedienen, Wahlentscheidungshilfen wie der Wahl-O-Mat aber weiterhin recht sperrig? „Eigentlich müsste man die beiden Prinzipien zusammenbringen“, sagte also Projektleiter Matthias Bannert zu seinem Entwicklerkollegen Max Mitschke, während sie im Winter in der U-Bahn saßen. „Das machen wir einfach“, antwortete der 24-Jährige und baute einen Prototypen.

Anschließend wurde im Freundeskreis nach Politikstudenten gesucht, die sich bereit erklärten, die Wahlprogramme der Parteien zu lesen. Gemeinsam trugen sie online die Kernthemen zusammen und entwickelten 30 Fragen, die sie zur Kontrolle an Politikwissenschaftler der LMU München schickten, wo es weitere Verbesserungsvorschläge gab. Anschließend gingen die zugespitzten Fragen an alle 42 Parteien, die bei der diesjährigen Bundestagswahl antreten. Nach einigem Nachfragen haben mittlerweile 23 davon geantwortet. Neben den schlichten Ja-Nein-Antworten auf alle Fragen konnten sie eine Begründung angeben.

Kurze Videos statt Beamtendeutsch

In der fertigen App WahlSwiper, die kostenlos heruntergeladen werden kann, wischt man sich durch alle 30 Fragen und bekommt am Schluss angezeigt, welche Partei das Ja-Wort am Wahlsonntag vielleicht am ehesten verdient hätte. Damit die Fragen auch Erstwähler verstehen, die vorher noch nie vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz oder dem bedingungslosen Grundeinkommen gehört haben, gibt es zu jeder Frage kurze Erklärvideos. „In der Generation Youtube will man einfach lieber ein kurzes Video angucken, als einen langen Text lesen“, sagt Steven Siebert, der dritte im Bunde. Der 22-Jährige kümmert sich auch sonst vor allem um Videoformate in der gemeinsamen Firma Movact. Live-Streaming von Kochshows oder Technikrezensionen zum Beispiel.

Auch die drei von der „Agentur für digitale Markenkommunikation“ haben das Projekt vor allem gemacht, um mehr Leute zum Wählen zu motivieren. „Es gab irgendwie zu viele in meinem Bekanntenkreis, die nicht mehr wählen gehen“, sagt Bannert. „Aber wir wollen natürlich nicht leugnen, dass die App auch gute Werbung für unsere Agentur ist“, fügt Mitschke hinzu. „Und inzwischen haben wir in den deutschen Download-Charts im App-Store bei Apple sogar Tinder überholt.“