#Datenspiegel 25: Eine Frage des Zugangs
Überall auf der Welt versuchen Medien, mit Datenanalysen, Infografiken und Crossmedia-Geschichten, den Journalismus weiterzudenken. An dieser Stelle sammelt das Team des Tagesspiegel Innovation Lab seine Lieblingsgeschichten – jede Woche. Heute mit wunderschönen Aufbereitungen zur Entwicklung deutscher Städte, dem Monatszyklus und der Privatisierung von Seeufern. Außerdem dabei: Interessante Hochrechnungen zu E-Rollern in Berlin, Schulden deutscher Kommunen – und die wohl beste Nahverkehrsanalyse der letzten Jahre.
Viel See für wenige Menschen
»Die meisten Seen in Österreich sind so sauber, dass man daraus trinken kann.« Damit wirbt das österreichische Tourismusportal auf seiner Webseite in Schriftgröße 36. Schade nur, wenn keiner ran kommt an den See. Die Journalisten des österreichischen Medienprojekts Addendum haben sich gefragt, wie viel Ufer der größten österreichischen Seen öffentlich zugänglich sind. Ergebnis: Nicht viel. Gerade am Wörthersee, König zahlreicher Österreich-Postkarten, sind nur noch neun Prozent öffentlich zugänglich, 82 Prozent sind schon privatisiert.
Eine Besonderheit des Projekts findet sich im Methodenkapitel. Weil es offensichtlich vonseiten der Verwaltungen keine richtigen Daten darüber gab, wo die Seeufer zugänglich sind, sind die Kollegen einfach losgelaufen. Und haben zu Fuß nachgemessen. Das ganze Projekt anschauen.
Rollerflut in der Innenstadt
Ich seh die Stadt vor lauter Rollern nicht mehr! Das dachte sich wohl der RBB. Und hat mit seinem Datenteam ausgewertet, wo die meisten E-Scooter in Berlin herumstehen. Damit kommen die Anbieter Circ, Lime, Tier und Voi zusammen schon jetzt auf 4800 Roller in Berlin. Wie auch schon die Carsharing-, Bikesharing- und Ridesharing-Angebote stapeln sich auch die Scooter derzeit besonders in Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg.
Allein um den Checkpoint Charlie stehen laut der RBB-Analyse mehr Roller als in vier Außenbezirken zusammen. Der zugehörige Artikel lässt Experten erzählen, warum das derzeit so ist und wie man es vielleicht schaffen könnte, dass doch mehr Scooter in die Außenbezirke kommen. Dort, wo die BVG-Haltestellen weiter auseinanderliegen und sie wirklich neuen Nutzergruppen eine bessere Anbindung an die Stadt bringen könnten. Die ganze Recherche lesen.
Die Geschichte der Stadt – Schwarz auf Weiß
In Zeiten von Mietnot, Mobilitätswende und globaler Urbanisiserung hat man in Deutschland manchmal den Eindruck, dass kaum noch Raum da ist für echtes Nachdenken über eine Stadt der Zukunft. Statt die Frage zu beantworten, wie der öffentliche Raum funktionieren soll, der so sehr Keim wie Zukunft unserer Gegenwartsgesellschaft ist, werden Probleme verwaltet. Und das selten schnell genug.
Da tut es so richtig gut, dass jemand einen Schritt zurück macht und sich Zeit nimmt, aufzuarbeiten, woher unsere Städte eigentlich kommen. Dieser jemand ist in dem Fall Spiegel-Datenjournalist Patrick Stotz, der zusammen mit seiner Kollegin Anna-Lena Kornfeld eine fantastische Zeitreise durch die Entwicklung deutscher Städte im Verlauf der Jahrhunderte gebaut hat. Da fallen so schöne Sätze wie: »Städte sind steingewordene Flickenteppiche aus Bauvorschriften, Gestaltungsidealen, Mobilitätstrends, Grundstücksspekulationen, Kriegsschäden und natürlichen Grenzen.«
Gestaltet haben die beiden dazu ein interaktives Longread konsequent in Schwarz-Weiß. Schließlich geht es um sogenannte »Schwarz-Pläne«, wie man lernt. Das gibt dem Ganzen die notwendige Ruhe zwischen den detaillierten Stadtplänen über Jahrhunderte. Und sicher hat es dem Text auch geholfen, dass Stotz eigentlich ausgebildeter Stadtplaner ist. So haben die beiden es dann auch gar nicht nötig, groß zwischen den Fakten herumzumoralisieren. Das Nachdenken über die Visionslosigkeit im Städtebau der Gegenwart stellt sich ganz von alleine ein. Projekt selbst bestaunen.
Ein Zyklus – auf den Punkt gebracht
Federica Fragapane beweist in den vergangenen Jahren Projekt um Projekt, wie man selbst die abstraktesten Datensätze Menschen nahebringen kann. So visualisierte sie für die BBC die Menge an Weltraum-Müll oder für La Lettura die Städte mit den meisten Gewalttaten weltweit. Jede ihrer Datenvisualisierungen könnte genausogut im Museum ausgestellt wie in Magazinen gedruckt werden.
Jetzt hat Fragapane sich einer sehr grundsätzlichen Sache gewidmet: Dem Menstruationszyklus. Den hat sie für eines der ältesten populärwissenschaftlichen Magazine, das Scientific American visualisiert. Im ersten Moment dachte ich mir: Moment mal! Das ist doch bestimmt schon hunderte Male hervorragend visualisiert worden, betrifft es doch schließlich die Hälfte der Menschheit. Eine kurze Recherche ergibt, dass dem offensichtlich nicht so ist. Fragapane gelingt es, diese Vielzahl komplexer biochemischer Reaktionen im Körper in eine Grafik zu packen. Und das auch noch so, dass man das Zusammenspiel aus Hormonen versteht, wenn man kein Biologe ist. Die Visualisierung im Detail anschauen.
Wie gefährlich ist Stuttgart?
Die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten haben gemeinsam eine »Crimemap« gestartet. Mithilfe von Maschinellem Lernen sortiert das Projekt aktuelle Polizeimeldungen in neun Kategorien. Wenn man ein bisschen mit den verschiedenen Filtermöglichkeiten herumspielt, fällt auf: Besonders gefährlich ist Stuttgart wohl wegen der vielen Verkehrsunfälle. Das Projekt ist nach dem erfolgreichen Projekt »Feinstaub-Alarm« schon das zweite, in dem sich die Stuttgarter Zeitung in automatisiertem Journalismus ausprobiert.
Während der Feinstaub-Alarm seine Daten allerdings aus hunderten Luftsensoren von Freiwilligen bezieht, greift die Crimemap ausschließlich auf Veröffentlichungen der Polizei zurück. Birgt es nicht Gefahren, wenn Journalisten automatisiert Polizeiberichte weiterverbreiten?
Ich habe den verantwortlichen Datenjournalist Jan Georg Plavec einfach direkt gefragt. Er hat das Projekt für die Stuttgarter Zeitung entwickelt. Er sagt: »Uns ist vollkommen bewusst, dass die Polizei in ihren Pressemitteilungen nur den kleineren Teil des Kriminalitätsgeschehens abbildet. Solange die Polizei nicht, wie z.B. in den USA, ihre Datenbank für die Allgemeinheit zugänglich macht, ist die Summe der Polizeimeldungen aber die bestmögliche öffentlich verfügbare Version der Wahrheit. Und die werfen wir, nach Zeit und Ort sortiert, auf unsere Crimemap.« Damit wir alle unsere Arbeit noch besser machen können, wäre es also schön, wenn die Polizei ihre Arbeit endlich transparenter macht. Alle Verbrechen in Stuttgart erkunden.
»Ein Leben lang trächtig und am Ende eine Wurst«
Den besten Titel der Woche hat sich der Schweizer Tagesanzeiger für seine Geschichte über Kühe und Fleischproduktion ausgedacht. Die genauso informativ wie lustig gestaltete Story »Ein Leben lang trächtig und am Ende eine Wurst« entführt einen nicht nur in die Welt der Schweizer Kuhzucht und der Schlachtindustrie.
Trotz des Fokus auf visuelles Erzählen wird der Prozess sehr spannend eingeordnet. Zum Beispiel wird verglichen, wie viel CO2 die Kühe im Vergleich zu Passagierflugzeugen so ausstoßen und wie der Staat die Kuhzucht fördert. Das ganze Leben der Kuh Erika nachvollziehen.
Auch noch spannend
Ich könnte jetzt hier noch lange weiter machen. Es gibt einfach jede Woche immer mehr sehr gute Leute, die sehr gute Datengeschichten machen. Wer noch immer nicht genug hat, sollte sich die Analyse zur Verschuldung deutscher Kommunen von Julius Tröger bei Zeit Online anschauen, die unglaublich detaillierte Auswertung der Verlässlichkeit der New Yorker U-Bahnen in der New York Times bestaunen und den Blogbeitrag von Wasim Ahmed zur Nutzung von Twitter als Datenquelle lesen.
Außerdem hat der Business Insider eine völlig neue Form gefunden, mit drögen Regierungsdokumenten umzugehen: Sie haben einen preisgekrönten Autoren und einen Illustratoren angeheuert, den Mueller-Report über Trump umzusetzen, damit er für Normalsterbliche lesbar wird. Zum Abschluss empfehle ich den unterhaltsamen Blog Post von Infografik-Meister Alberto Cairo über schwachsinnige Infografiken. Eine besonders sinnfreie hier noch als Beispiel. Bis nächste Woche!