Mein Brieffreund, der Verschwörungstheoretiker
Wer als Journalist gelegentlich über Reichsbürger, Rechtsextreme und andere Menschenfeinde berichtet, erhält viel Fanpost. Mal sind es seitenlange Belehrungen, mal fiese Beleidigungen (Diese Frisur! Diese Fresse! Dieser Nachname!), mal Gewaltandrohungen. Besonders skurrile Nachrichten werden auf dem Desktop im Ordner „Wirrköpfe“ archiviert, besonders unschöne an die Polizei weitergereicht.
Neulich schrieb mir das „Höchste Gericht der geeinten deutschen Völker und Stämme“, eine Gruppe, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. In einem kritischen Artikel über sie hätte ich die „Zersetzung echter naturstaatlicher Staatlichkeit“ angestrebt, dafür blühe mir nun eine Strafe von mindestens „9000 Feinunzen Gold“. Das entspricht, falls ich richtig gerechnet habe, 9,6 Millionen Euro. Zudem käme Sippenhaft infrage, diese umfasse „die Haftung Ihrer Familie bis in die dritte Generation der lebenden Vorfahren und dritte Generation der Nachkommen“. Insgesamt also unerfreulich.
Dunkle Kräfte versklaven die Menschheit
Doch es geht auch anders. Auf Facebook schrieb mich ein Mann an, nennen wir ihn Hans. Er warnte vor dunklen Kräften, die aktuell versuchten, die Menschheit zu versklaven. Jeder, der diese Wahrheit ausspreche, werde ermordet, demnächst wahrscheinlich Xavier Naidoo. Sein Wissen habe Hans „mühsam über viele Jahre zusammengetragen“, er habe geheime Verträge eingesehen, Insider interviewt. Hans fragte, ob ich ihn deswegen gleich für einen Verschwörungstheoretiker hielte, was ich bejahte. Da er aber freundlich blieb, schrieben wir ein wenig hin und her, und dann beschlossen wir ein Experiment: Er würde mir der Reihe nach seine Theorien und die dazugehörigen Beweise vorstellen, und wir würden jeweils darüber diskutieren.
Hans behauptete etwa, Michael Jackson sei 2009 ermordet worden, weil er kurz zuvor auf einer Pressekonferenz vor „bösen Mächten“ gewarnt habe. Auf Youtube gebe es ein Video der Rede. Es dauerte, bis Hans den Link wiederfand, und es stellte sich heraus, dass er Jacksons Worte falsch verstanden hatte. Der Sänger sprach gar nicht von bösen Mächten, sondern von der Popindustrie, die dunkelhäutige Musiker benachteilige. Zudem vergingen zwischen Pressekonferenz und Tod sieben Jahre. Hans gab zu, dass seine Theorie dann wohl Quatsch sei. Er habe zu diesem Thema womöglich nicht ganz so penibel recherchiert wie sonst, allerdings sei der Jackson-Mord ja nur ein „kleines Mosaik in einem großen Zusammenhang“.
Die Disney-Verschwörung
So ging es weiter. Immer wenn Hans eine konkrete Theorie aus dem Fundus seines mühsam zusammengetragenen Wissens präsentierte, sah er bald ein, dass er etwas missverstanden, sich verlesen oder verhört, Jahreszahlen verwechselt oder der Internetseite eines anderen Verschwörungsheinis vertraut hatte. Dazu kamen Logikfehler: Hans glaubte, Satanisten beherrschten im Geheimen die Welt. Dasselbe unterstellte er den Juden. Und den Illuminaten. Und den Außerirdischen. Und den Chinesen. Er gab dann zu, dass vermutlich nicht alle diese Theorien gleichzeitig wahr sein könnten.
Die Brieffreundschaft mit Hans machte Spaß. Er blieb höflich und aufgeschlossen, ich gefiel mir als Stimme der Vernunft. Bis zu der Disney-Verschwörung.
Hans schrieb, auf dem Plakat zum „König der Löwen“ sei eine nackte Frau zu sehen und Disney eigentlich eine Pornosekte des Teufels. Was soll ich sagen? Die nackte Frau gibt es wirklich. Schauen Sie selbst. Achten Sie auf die Nase des Löwen. Und ist dieser Schatten Peter Pans wirklich akkurat gezeichnet? Versteckt sich auf diesem Dalmatiner-Rücken ein Hakenkreuz? Und was bitte ist das hier? Ich grüble, was ich Hans jetzt antworten soll. Aber mir fällt nichts ein.
Diese Kolumne ist in gedruckter Form im Sonntags-Magazin des Tagesspiegels erschienen. Sie können ihm auf Twitter unter @TSPSonntag folgen.