Ein neues Lesen
Fritz Lloyd Wetzel liest keine Zeitung. Das hat er so gesagt, der 18-jährige TU-Student, öffentlich, bei einer Diskussionsveranstaltung, mitten im Tagesspiegel-Kerngebiet, dem Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg. Ich saß neben ihm auf dem Podium im Café Haberland und habe es genau gehört. Um die Zukunft der Medien ging es an dem Abend, um die Glaubwürdigkeit der Journalisten, darum, wie wir künftig - und zum Teil auch schon jetzt - lesen, uns informieren, an der öffentlichen Debatte teilhaben.
Wie informiert sich Fritz Lloyd Wetzel, ein politisch interessierter junger Mensch? „Das Internet gibt mir die Möglichkeit, viele verschiedene Sichtweisen miteinander zu vergleichen und mir dann selbst eine Meinung zu bilden“, sagt er und nennt „Reddit“ als wichtige Anlaufstelle. Diese Website, sie hat sich selbst zur „Frontpage des Internets“ ernannt, ist ein so genannter sozialer Nachrichtenaggregator. „Sozial“ hat dabei nichts mit karitativ oder gemeinnützig zu tun. Das Startup Reddit wurde 2006, ein Jahr nach Gründung, wegen vielversprechenden Wachstums vom Condé-Nast-Verlag („Vogue“, „GQ“, „Wired“) gekauft und untersteht heute direkt dem Condé-Nast-Mutterkonzern Advance Publications. „Sozial“ steht hier für interaktiv, vernetzt, orientiert an Inhalten und Bewertungen, die von Lesern beigesteuert werden.
Texte auf neuen Wegen
Vor allem aber stehen Aggregatoren und soziale Medien wie Reddit für eine neue, sich seit einigen Jahren verbreitende Art zu lesen: Leserinnen und Leser steuern klassische Medien seltener direkt an. Texte kommen auf anderen Wegen zu ihnen: über Links, die für sie aufgrund von Empfehlungen anderer Leser oder aufgrund des eigenen bisherigen Leseverhaltens durch Algorithmen aufgelistet werden. Diese Links verweisen auf von Lesern selbst geschriebene Kommentare, auf Inhalte anderer sozialer Medien oder Blogs und auf Beiträge klassischer Medienhäuser.
Acht von zehn Reddit-Usern sagen laut einer aktuellen Studie des US-Meinungsforschungsinsituts Pew, dass sie ihre Nachrichten aus dem Aggregator beziehen. Zuletzt war demnach vor allem das Interesse an den Präsidentschaftwahlen dort groß. Der linke demokratische Bewerber Bernie Sanders war für Reddit-User schon ein wichtiger politischer Akteur, als sich noch nicht abzeichnete, dass er in den Vorwahlen zunächst durchaus Chancen hatte.
Und so kommen doch Medien-Inhalte, auch Zeitungstexte, wenn man so will, zu Fritz Lloyd Wetzel. Sie stehen hier allerdings in ständiger Konkurrenz mit anderen Quellen. Die klassischen Medien verlieren ihren strukturellen Vorteil. Ihre Marken müssen ihren Wert in einem anderen Umfeld als dem klassischen Vertrieb beweisen und können nicht mehr auf die Kraft der gebündelten Ausgabe vertrauen, die einen Gesamtüberblick, einen Stand der Dinge aus allen Ressorts verspricht. Stattdessen kämpft jeder einzelne Beitrag um Aufmerksamkeit.
Falsche Freunde
„Das Netz zerstört die horizontale Integration“, schreibt der amerikanische Medienforscher Clay Shirky mit anderen in dem Essay „Post-industrieller Journalismus“ und meint damit das klassische Zeitungsbündel. Shirky et al sehen die Zeit der traditionellen, „industriellen“ Medienkonzerne ablaufen. Neuere, zunächst kleinere, spezialisiertere Einheiten können seiner Ansicht nach besser die Inhalte schaffen, die im Zeitalter der Links gesucht und empfohlen werden, als jene, deren Geschäftsmodell über die Jahrzehnte auf dem Verkauf von Bündeln und der Herstellung von „commodity news“, Gebrauchs- oder Alltagsnachrichten, beruhte, die nun überall frei im Netz zur Verfügung stehen.
Ich bin 49 Jahre alt und lese wie Fritz Lloyd Wetzel. Nicht so sehr über Reddit, der Name einer Marke, ist hier auch gar nicht so wichtig, aber nach ähnlichem Prinzip: Empfehlungen und Algorithmen bringen mir Informationen und Meinungen nahe, derzeit vor allem über Facebook und Twitter. Dabei kommt es nicht so sehr auf das technische Netzwerk an, sondern auf die „Freunde“ und „Follower“, mit denen man sich dort zusammentut und interagiert. Entsprechend antwortete Fritz Lloyd Wetzel in der Haberland-Debatte einem ebenfalls jungen Zuschauer, der meinte, dass bei Facebook doch vor allem Falschmeldungen verbreitet würden: „Ich weiß ja nicht, was Sie für Freunde dort haben.“
Facebook wird erwachsen
Auch Facebook entwickelt sich vom sozialen Medium zum sozialen Nachrichtenaggregator. Genau deshalb halte ich die Abgesänge, weil die ganz Jungen nicht mehr zu Facebook gehen, für verfrüht. Die weltumspannende Plattform entwickelt sich zu einem Medium für Erwachsene. Fritz Lloyd Wetzel ist auch bei Facebook. „Ich hätte dort gern mehr Politisches und weniger Urlaubsbilder“, sagt er. Genau das ist die Strategie des Unternehmens. Mit neuen Angeboten für klassische Medien will Facebook diese Entwicklung verstärken, zum Beispiel mit Instant Articles, einer Möglichkeit, Medienbeiträge direkt bei Facebook zu veröffentlichen und nicht nur zu verlinken.
Nicht nur Medienfirmen, auch freie Journalisten können mitmachen und sich unter dem Facebook-Dach unter Umgehung von Redaktionen selbst zur Marke entwickeln. Aus dem post-industriellen wird ein neu-industrieller Journalismus, mit Facebook als multinationalem Medienkonzern. Eine Tendenz, die andere Medienunternehmen aufmerksam beobachten sollten. Sie stehen nun vor der kniffligen Frage, ob sie dort mittun sollen, um mehr Leser zu erreichen, dabei aber einen Monopolisten mit heranziehen. Oder ob sie andere Plattformen finden oder selbst entwickeln, womöglich indem sich mehrere Medienhäuser zusammentun.
Bessere Preise für bessere Texte
Neben wirtschaftlichen hat das neue Lesen im Netz auch direkte Auswirkungen auf den Journalismus. Als Journalist, also nicht nur als interessierter Leser, stoße ich in meinen Netzwerken meist früher auf spannende Themen als die klassischen Nachrichtenagenturen, die einst die überregionale Agenda bestimmten. Das heißt nicht, emphatisch nicht, dass Informationen, die über Social Media zu uns kommen, einfach so für unsere journalistische Arbeit übernommen werden. Sie geben nur den Anstoß für eigene Recherchen, die aber nun schon beginnen können, bevor eine Agenturmeldung auf den Redaktions-Bildschirmen aufpoppt.
Die Entbündelung publizistischer Angebote durch das Netz bietet große Chancen für besser recherchierten, tiefergehenden Journalismus. Einzelne Medien fühlen sich nach und nach vom Zwang befreit, möglichst über alle Themen zu berichten, wie es im klassischen Zeitungsbündel nun einmal üblich war. Durch Konzentration auf Stärken, durch Priorisierung von Themen, können Medien jeweils mehr Expertise für bestimmte Themen entwickeln, andere weglassen und die dadurch frei werdenden Ressourcen in jene Kernthemen einbringen. Das könnte auch dabei helfen, durch zuweilen hektische, oberflächliche Berichterstattung verlorenes Vertrauen der Leser zurückzugewinnen. Exklusive journalistische Expertise darf auch darauf hoffen, sich digital besser als Bezahlinhalt verkaufen oder hochpreisiger bewerben zu lassen. Das passt dann auch zur neuen Art zu lesen, denn exklusive Expertise wird stärker und nachhaltiger wahrgenommen, zumindest von politisch interessierten Zielgruppen und deren Netzwerken.
Generationenkluft in Deutschland
Wer sich an die neue Art zu lesen gewöhnt, den Zugriff auf eine Vielzahl von Quellen schätzen gelernt, das Prinzip, sich Spannendes empfehlen zu lassen und Spannendes zu empfehlen, verinnerlicht hat, der kehrt nur mit sehr guten Argumenten zum Bündel zurück. Die, die nachkommen, sind es so gut wie alle gewohnt. Menschen wie Fritz Lloyd Wetzel wurden mit dem Internet, den Social Media und deren Möglichkeiten groß.
Daraus ergibt sich ein Altersgegensatz, der in Deutschland besonders ausgeprägt ist. Nur 39 Prozent der über 35-Jährigen nutzen laut Pew Research in Deutschland Social Media, aber 81 Prozent der 18- bis 34-Jährigen. Mit 42 Prozentpunkten Differenz ist Deutschlands Generationenkluft weltweit am größten.
Die Herausforderung für die Medien ist nun, die in der jungen Generation fast flächendeckend - und auch bei einigen Älteren - bereits gelernte neue Art zu Lesen mit einem passenden Geschäftsmodell, das auch an der Streuung und nicht mehr nur an der Bündelung orientiert ist, zu verbinden. Die sich ebenfalls aus den Pew-Zahlen ergebende Verzögerung der Entwicklung bei älteren Deutschen lässt uns womöglich etwas mehr Zeit für den Wandel, täuscht aber nicht über dessen Notwendigkeit hinweg.
Hoffnung aus Europa
Zumal die Verbindung von Textstreuung und Textverkauf in diesen Tagen technisch erstmals gelingt: Das junge Unternehmen Blendle hat eine Plattform entwickelt, auf der einzelne Beiträge zum Erwerb angeboten werden. Für jeden einzelnen Text und damit für jeden einzelnen Kauf steht ein Link zur Verfügung, der in sozialen Medien und Aggregatoren verwendet und somit empfohlen und weiterverbreitet werden kann.
Blendle, ein holländisches Startup, steht im übrigen auch dafür, dass wichtige digitale Entwürfe nicht immer zuerst aus Kalifornien kommen müssen. Apple zieht nun bald mit einer Micropayment-Lösung nach, was die ganze Sache für den Medienmarkt so richtig spannend machen wird. Gleichzeitig versucht Blendle nun in die USA zu expandieren. Diese holländisch-kalifornische Angelegenheit ist vielleicht auch eine Mahnung, dass wir in Deutschland vor lauter Risikobeschau die Chancen der Digitalisierung übersehen und nichts eigenes entgegenzusetzen haben.
Das Blendle-Prinzip, Einzelverkauf in einem markenübergreifenden Kiosk bei größtmöglicher Link-Streuung, ob von Blendle selbst umgesetzt oder demnächst auch von anderen, ist in jedem Fall eine große Chance. Leider ist diese Sicht in der deutschen Verlagsbranche nicht verbreitet. Man setzt mit seinen Paid-Content-Angeboten lieber weiter aufs eigene Bündel, was den neuen digitalen Lesegewohnheiten eher widerspricht. Dabei wäre zum Beispiel ein gemeinsam entwickelter Leitmedien-Kiosk, aus dem heraus Qualitätszeitungen ihre Texte einzeln an die Leser bringen, aus meiner Sicht eine gute Idee. Das Angebot wäre breit gefächert genug, um einen steten Feed von Beiträgen und eine Vielzahl möglicher Empfehlungen zu sichern - über eigene Social-Media-Elemente in dem Kiosk und extern über Facebook, Twitter et al -, und es wäre gleichzeitig auf eine Zielgruppe zugeschnitten, die als Leser und Multiplikatoren interessant ist. Die Branche müsste sich nur trauen.
Ein bisschen German Angst kann sicher nicht schaden und blinde Netzeuphorie birgt Gefahren. Aber wenn soziale Netzwerke und Foren inzwischen weiträumig im öffentlichen Diskurs nurmehr als Hort der Hasskommentare und nicht mehr als Feld der Vernetzung und des Diskurses beschrieben werden, dann widerspricht das nicht nur alltäglich erlebter Realität, sondern verbaut auch den Blick auf die Zukunft. Unser Umgang mit Social Media sollte sich nicht in unreflektierter Ablehnung erschöpfen. Vor allem nicht, wenn wir an der Zukunft des Lesens, der Kommunikation, der Debatte, der Medien insgesamt interessiert sind.
Und selbst das Bündel lebt. Das belegt das anhaltende Interesse von Lesern – nicht zuletzt der treuen Abonnenten des Tagesspiegels - an gedruckten Zeitungen und am E-Paper. Es gibt weiterhin einen Bedarf, zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Stand der Dinge präsentiert zu bekommen.
Vom Autor zum Kurator
Newsletter sind ein Weg, die Kraft eigener journalistischer Inhalte mit den Vorzügen des Empfehlens zu verbinden. Mit dem „Checkpoint“ für Berlin und der „Morgenlage“ für Politik und Wirtschaft ist der Tagesspiegel unter klassischen deutschen Medien ein Pionier. Die Erkenntnis, dass ein Newsletter kein Werbemittel für die eigene Website oder Zeitung, sondern ein selbständiges Medium ist, war dabei entscheidend. In den Newslettern finden sich exklusive Inhalte und sie verlinken ausgiebig auf andere Medien, um tatsächlich einen Überblick, einen Stand der Dinge bieten zu können. Eine neue Art von Bündel entsteht, das sich nicht mehr nur aus Inhalten der eigenen Marke zusammensetzt, aber diese Marke und die Persönlichkeit des Empfehlenden zur Verknüpfung zu einem Angebot nutzt.
Dabei wird der Empfehlende, der Kurator, inzwischen teils als wichtiger wahrgenommen als der Autor. Wenn Sascha Lobo oder Jan Böhmermann in Social Media etwas empfehlen, dann überlagert das Empfehlen durch Netzprominenz oft den Autornamen. Ich selbst, fern solcher Prominenz, mache eine ähnliche Erfahrung, wenn ich auf einer meiner Social-Media-Seiten mal wieder richtigstelle, dass ein Lob für einen besonders gelungenen, von mir empfohlenen Beitrag nicht mir gebührt („Toller Text von Markus Hesselmann, danke!“), sondern dem Kollegen, der ihn tatsächlich geschrieben hat. Und stelle fest, dass ich für einige Freunde und Follower inzwischen als eine Art Medium wahrgenommen werde, auf dessen Auswahlkriterien man vertrauen kann, eine neue Art beruflicher Genugtuung.