Wenn Senioren Surfen lernen
An der Wand hängt die Milchstraße, im Raum sitzen ein Dutzend Senioren im Kreis, im Gesicht einen Pappkarton. Sie starren mit dem Pappkarton Löcher in die Luft, alle in leicht unterschiedliche Richtungen. Sie sind auf dem Mond. Mitten in Mitte auf der Fischerinsel. „Oh!“, sagt eine, die ihren Rollator neben sich geparkt hat und gerade die erste Mondlandung von Neil Armstrong betrachtet. „Das Rundumfoto wurde aus den Aufnahmen der Astronauten von 1969 zusammengesetzt“, sagt ein junger Google-Mitarbeiter, der vor den Senioren steht, ein Tablet in der Hand hält und auf jede Frage bereitwillig antwortet.
Das Ganze ist eine Veranstaltung des Senioren Computer Club Mitte (SCC), der sich für diesen Tag Google Expeditions eingeladen hat, ein Bildungsprogramm des Web-Giganten. Entwickelt, damit Lehrer ihren Schülern Inhalte in virtueller Realität zeigen können. In jeder der Pappboxen, die sich die Senioren vor die Augen halten, stecken ein Smartphone und zwei Plastiklinsen, was zusammen eine Virtual-Reality-Brille ergibt. Über ein lokales Netzwerk sind sie mit dem Tablet des Lehrers verbunden, der auswählen kann, wohin die simulierte Reise geht. Nach dem Mond wird der Regenwald besucht, dann das Great Barrier Reef.
»Die denken sich: Dafür bin ich zu doof«
„Man liest ja viel“, sagt die Dame, die regelmäßig „Oh!“ und „Ah!“ zu den verschiedenen Szenen sagt, „aber man hat es ja sonst nie direkt vor Augen“. Nur die 3D-Zukunftssimulationen von einem möglichen Dorf auf dem Mond gefällt den Teilnehmern nicht: „Die sollen den Mond mal lieber so lassen, wie er ist“, raunt eine. Der Google-Mitarbeiter, der sonst mit den Expeditionen in Schulklassen fährt, unterdrückt ein Lachen.
Günter Voß, 67 Jahre alt und früher einmal Produktionsleiter für Dokumentarfilme, ist Koordinator beim SCC. Seit siebeneinhalb Jahren arbeitet er ehrenamtlich für den Club, „einfach, weil es Spaß macht.“ Neben solchen Veranstaltungen, zu denen sie externe Partner wie Google einladen, veranstaltet der SCC Filmvorführungen, Computer-Kurse und die „PC Praxis“. Sie sind Teil des Kreativhauses in Mitte, einem Kulturzentrum, das ihnen Räumlichkeiten stellt. „Die Zeiten, in denen die Alten die abgelegten PCs der Enkel benutzen, sind vorbei“, sagt Voß. Aber er sagt auch, dass viele Alte anfangs große Hemmungen haben vor dieser Welt: „Die denken sich einfach: Dafür bin ich zu doof.“
Die drohende digitale Kluft
Was auf den ersten Blick drollig wirkt, ist auf den zweiten ein drohendes gesellschaftliches Desaster. „Zwei Drittel der Menschen über 70 nutzen in Deutschland das Netz nicht, das sind zehn Millionen Menschen, die offline sind“, sagt Herbert Kubicek, pensionierter Professor für Angewandte Informatik und wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Digitale Chancen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet sind es bei Rentnern ab 75 Jahren sogar zwischen 78 und 89 Prozent, die das Netz nicht nutzen.
Und das wird zunehmend zum Problem. So kam eines Tages eine Frau zum SCC, deren Mann gestorben war, erzählt Voß. Leider hatte er alle Bankgeschäfte erledigt – online. Sie aber konnte das nicht. Und kam nicht mehr an ihr Geld. Und eine Woche später, bei der „PC Praxis“ des SCC, sitzt Dieter Beiling, 80 Jahre alt und sagt: „Ich habe schon sehr mit mir gehadert, ob ich mich in dem Alter noch mal mit so was beschäftigen soll.“ Aber als er immer öfter nicht nur nach einer Mailadresse gefragt, sondern diese vorausgesetzt wurde, habe er sich einen Ruck gegeben: „Heute mache ich alles mit: E-Mails, Reisen buchen, Fotos und Untersuchungsergebnisse speichern.“
Vorne erzählt Voß den „Silversurfern“ gerade, wie sie Daten sichern können. Dazwischen macht er Wortwitze. Ein Teilnehmer fragt: „Wenn ich einen Brief schreibe in Word und ich will Pause machen und drücke auf ,Speichern’, wo landet das dann?“
Technologie ist kein Selbstzweck
„Achtzig Prozent der Älteren finden das Internet gut, weil es ihnen helfen kann, in Kontakt mit anderen zu bleiben“, sagt Kubicek. Er hat in Seniorentreffs mit insgesamt 300 Personen eine Studie gemacht: Acht Wochen lang bekamen sie Tablets gestellt. Hinterher analysierten die Forscher, welche Angebote am besten ankamen. Nach E-Mails, mobilitätsbezogenen Anwendungen wie Nahverkehrsapps und Navigation folgten überraschenderweise Spiele. „Allerdings nicht nur Unterhaltungsspiele, sondern auch Spiele fürs Gedächtnistraining und Geschicklichkeit“, sagt Kubicek.
Man müsse ernster nehmen, dass Senioren digitale Technologie nicht als Selbstzweck sehen, sondern nur nutzen, wenn sie sich davon einen Effekt erhoffen. Die größte Kluft bestehe derzeit bei Einkäufen. Während 80 Prozent sagen, dass sie gerne online einkaufen würden, weil es ihnen Laufereien erspare, tun es tatsächlich nur 25 Prozent. Zu hoch sind die Hürden durch Registrierung, Bezahlungsweg und der Angst, etwas falsch zu machen. Kubicek sieht deshalb in Seniorentreffs und Leihmodellen ein wichtiges Bindeglied. Und er glaubt, dass besonders Tablets die Brücke bilden können: „Denn alleine die Maus am PC hat schon viele Nachteile für Ältere, vor allem, wenn sie zittern.“ Und Tablets kann man in beliebigem Abstand zu sich halten.
»Der einfachste Computer der Welt«
An genau diesem Punkt setzt ein Berliner Unternehmen an, das sein Büro nur wenige hundert Meter vom SCC hat. Nepos entwickelt seit zwei Jahren ein Tablet für Ältere, oder, wie sie es nennen, „den einfachsten Computer der Welt“.
„Wir glauben, dass gerade diese Zielgruppe am meisten von vielen Services im Netz profitieren könnte“, sagt einer der beiden Gründer, Florian Schindler. „Was bisher fehlte, war das Interface.“ Paul Lunow, der zweite Gründer, hatte die Idee, während er seiner Oma das iPad erklären wollte, das er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Schnell merkte er, dass die größte Frustration in den uneinheitlichen Steuerungen und Menüs der einzelnen Apps begründet lag. „Dabei muss das gar nicht mehr so sein“, sagt er.
Aufräumen hilft
Auf ihrem Tablet, an dessen Entwicklung 20 Mitarbeiter arbeiten, soll es deshalb ein „Universal Interface“ geben, das für alle Webseiten funktioniert. Es vereinheitlicht die verschiedenen Menüs der Seiten auf immer dasselbe, linear aufgebaute Menü. Und für die Bezahlung in Shops muss man sich nur einmal anmelden und kann die Bezahldaten speichern. „Alleine dieses Aufräumen der Struktur macht alles viel einfacher“, sagt Schindler. Dadurch werde es möglich, dass Netzneulinge nur einmal eine neue Routine lernen müssen, die dann überall funktioniert. „Und trotzdem haben sie Zugriff auf den ganz normalen Content da draußen“, sagt Schindler. „Es ist keines dieser Geräte, das Alte bevormundet oder den Verwandten verspricht, sie zu kontrollieren“, sagt er, „und es wird schick aussehen“. Trotzdem werden die Knöpfe leicht größer sein und das Gerät soll ergonomisch angepasst sein. Um herauszufinden, was dabei die angenehmsten Abläufe sind, testen sie ihre Entwicklung seit zwei Jahren mit älteren Nutzern.
Die beiden sind zuversichtlich, das Gerät 2018 auf den Markt zu bringen. An Finanzierung und Interesse von Shops mangelt es ihnen bisher nicht. Schließlich sind zehn Millionen mögliche Nutzer mit überdurchschnittlicher Kaufkraft ein Markt, von dem manch junges hippe Startup in Berlin nur träumen kann.
Diese selbstorganisierten Computerclubs für Senioren gibt es in Berlin
Wie funktioniert ein PC? Wie sichere ich Daten? Wie kann ich Fotos bearbeiten? Diese Orte bieten Kurse an:
Senioren Computer Club Berlin-Mitte Der SCC bietet Kurse für Einsteiger. In der PC-Werkstatt kann so ziemlich alles gefragt werden. Exkursionen und Kaffeeklatsch gibt es zu mehreren Themen. Website
Deutscher Senioren-Computer-Club Beheimatet in Lichtenberg, ist er der größte Computer-Club für Senioren. Es gibt Kurse von Word, über Fotos bis hin zu Videoschnitt und Flugsimulation. Website
Senioren Computer Club 42 Unter dem Motto „Wir haben keine Zeit, alt zu werden“ bietet der Verein Schulungen zu Windows, Hardware und Kaffeeklatsch zu neuen Entwicklungen an und richtet sich auch an erfahrenere Silversurfer. Website