Zwei Milliarden Risikokapital für Berlin
Sechs Jahre alt ist der Junge, ein Tumor wächst in seinem Kopf, er muss operiert werden. Normalerweise würde ein Teil der Schädeldecke geöffnet, der Chirurg müsste im sensiblen Bereich des Gehirns teilweise blind operieren – doch eine Berliner Firma hat eine Technik entwickelt, die das Risiko minimiert. Per Augmented Reality, also der computergestützten Erweiterung der Realität, macht sie es möglich, dass die Instrumente nur über ein vier Millimeter kleines Loch eingeführt werden und der Arzt während der OP eine dreidimensionale Sicht erhält.
Scopis heißt das Unternehmen, das dieses Navigationssystem für minimalinvasive Eingriffe entwickelt hat. „Möglich war dieser schnelle Erfolg jedoch nur durch eine Finanzierung über Venture-Capital“, erklärt Gründer und Geschäftsführer Bartosz Kosmecki, der das System in mehr als 50 Ländern vertreibt und 36 Mitarbeiter beschäftigt.
Zwei Drittel des Risikokapitals in Deutschland geht nach Berlin
Mehr als 17 000 Arbeitsplätze sind zwischen 2011 und 2015 in Berlin insgesamt mit Venture-Capital geschaffen worden. Das zeigt der in dieser Woche veröffentlichte Venture-Capital-Report der Technologiestiftung Berlin und der Investitionsbank Berlin (IBB). Mehr als zwei Milliarden Euro Risikokapital flossen demnach allein im vergangenen Jahr in Start-ups aus der Hauptstadt, das entspricht rund zwei Dritteln des deutschlandweiten VC-Investitionsvolumens von 2,9 Milliarden Euro und einem Anstieg von rund einer Milliarde im Vergleich zum Vorjahr.
Allerdings muss dabei ein Sondereffekt berücksichtigt werden: Die Start-up-Schmiede Rocket Internet hatte sich 2015 mit 496 Millionen Euro an der Online-Bestellplattform Delivery Hero beteiligt und damit erheblich zum Plus beigetragen. Dennoch sieht Nicolas Zimmer, Chef der Technologiestiftung, Berlin im deutschlandweiten Vergleich vorerst weiter an der Spitze. Das zeige auch der hohe Anteil an VC-Investitionen aus dem Ausland in Berlin. 35 Prozent des Venture-Capitals würden von europäischen und US-amerikanischen Investoren kommen, in Bayern sind es dagegen nur 25,5 Prozent, in Hamburg 23,5 Prozent. „Das zeigt, dass Berlin als internationale Stadt mit seinen internationalen Teams in der Lage ist, internationales Kapital anzuziehen“, sagte Zimmer.
Mittelständler sollen mehr investieren
Das meiste Kapital geht mit rund 1,2 Milliarden Euro an Start-ups aus der Informations- und Telekommunikationsbranche. Gefolgt vom Bereich E-Commerce mit 492 Millionen Euro, Life Science (Gesundheitsforschung) mit 46 Millionen Euro und Finanzdienstleistungen mit 53 Millionen Euro. Dass ausgerechnet der Bereich Life Science in Berlin einen so geringen Anteil hat, findet Zimmer „wenig erfreulich“. „Berlin hat eine herausragende Forschungslandschaft, dieses Potenzial muss mehr genutzt werden, um Venture-Capital anzuziehen.“
Scopis, das eine Ausgründung der Charité ist, hatte Investitionen im niedrigen zweistelligen Millionen Bereich erhalten. Zimmer regte an, dass insbesondere Mittelständler mehr motiviert werden müssten, um als Finanzgeber aufzutreten. Trotz Milliardenumsätzen und hohen Eigenkapitalquoten seien sie oft risikoscheu. Um ihnen diese Scheu zu nehmen, empfiehlt Zimmer eine engere Zusammenarbeit zwischen ihnen und öffentlichen Geldgebern wie der IBB.
Fintech weiterhin auf dem Vormarsch
Attraktiv für Investoren sind weiterhin Fintechs, die innovative Finanzdienstleistungen anbieten. Auf diesen Bereich konzentriert sich auch Dieter von Holtzbrinck Ventures, ein Schwesterunternehmen des Tagesspiegels, das derzeit mit jeweils 500 000 Euro an 15 Fintechs und Insurtechs beteiligt ist, davon sieben in Berlin. Der Fintech-Markt entwickle sich sehr erfolgversprechend, sagt Geschäftsführer Fabian von Trotha, „zudem ist er noch nicht so überhitzt wie andere Märkte.“
Auch die Bundesregierung will künftig das Engagement von Investoren bei Start-ups stärken. Geldgeber, die mit Risikokapital bei den jungen Technologiefirmen einsteigen, sollen aufgelaufene Verluste beim Fiskus geltend machen können. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde am Mittwoch beschlossen, die Änderungen sollen rückwirkend zum 1. Januar 2016 in Kraft treten. „Die Entscheidung kommt gerade zum richtigen Zeitpunkt, denn nach der Brexit-Entscheidung prüfen zahlreiche Start-ups und Venture-Capital-Fonds ihre Umsiedlung nach Kontinentaleuropa und vor allem nach Berlin“, sagte Berlins Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU).
Bartosz Kosmecki plant derweil die Eröffnung einer Scopis-Dependance in Boston, bereits kommenden Monat soll’s losgehen. Hauptsitz aber bleibt Berlin.