Schöne, neue Welten?
Klobig wie eine Skibrille ist sie, hindurchschauen kann man nicht – dafür aber mit ihr in digitale Welten eintauchen. So, wie es Stephan Gensch gerade macht. Der Mitgründer der Berliner Firma VRagments trägt eine Virtual-Reality-Brille auf der Nase und läuft damit durch den virtuellen U-Bahnhof Stadtmitte, er kauft Tickets und sucht einen Treffpunkt. Die Simulation ist ein Auftragsprojekt der BVG und der Technologiestiftung Berlin: Sie zeigt, wie sich Fahrgäste mit GPS und Standortdaten besser auf U-Bahnhöfen zurechtfinden sollen.
Das Geschäft mit den virtuellen Welten boomt, jeder fünfte Verbraucher in Deutschland liebäugelt einer Studie der Gesellschaft für Unterhaltungselektronik (gfu) zufolge mit dem Kauf einer Virtual-Reality-Brille. 130 Millionen Euro werden mit den Brillen dieses Jahr in Deutschland umgesetzt, plus 30 Millionen Euro für spezielle Inhalte, schätzt die Beratungsgesellschaft Deloitte – auch auf der Internationalen Funkausstellung Ifa sind die Brillen großes Thema.
Kopfbewegungen auf der A100
2016 erscheinen so viele Modelle wie noch nie. Die meisten Brillen ermöglichen auch Interaktion, sei es durch Kopfbewegungen, Sprachbefehle oder Controller. Dies und die starke Illusion von Räumlichkeit machen Virtual Reality (VR) für viele Anwendungsfelder interessant – von Kino und Computerspielen über Architektur und Tourismus bis hin zu Medizin, Berufstraining und Industrieproduktion. Was jetzt vor allem gebraucht wird, sind die passenden Inhalte. Und da will Berlin-Brandenburg vorne mitmischen. Auch in der Hauptstadtregion entstehen immer mehr Startups rund um die neue Technologie.
VRagments ist Teil dieser VR-Revolution. Das Startup in der Oranienstraße wurde erst im April 2016 gegründet; unter den fünf Gesellschaftern sind drei Informatiker, eine Journalistin und ein Journalist. Das Studio erforscht die unterschiedlichsten Möglichkeiten von VR, um interaktive 3-D-Produkte zu entwickeln. Neben der U-Bahn-Simulation ist „VROmega“ ein weiteres Projekt, ein Computerspiel zum Thema Lungenkrebs, das Nutzer für Risiken sensibilisieren soll. Mit „A100 VR“ macht VRagments wiederum den geplanten 17. Bauabschnitt der Berliner Stadtautobahn begehbar, das Projekt ist eine Kooperation mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), dem Berliner Unternehmen Lokaler und dem Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ).
Neuer Journalismus und eine 360-Grad-App
Auch an innovativen Formen des Journalismus arbeitet VRragments: Mit „Fader“ sollen Journalisten aus bestehenden Inhalten, also Fotos, Videos und 360-Grad-Aufnahmen, eigene VR-Geschichten erzählen können. Gefördert wird das Projekt von der Google Digital News Initiative mit 50 000 Euro.
Auf die Idee gekommen zu VRragments sind Gensch und sein Team vergangenes Jahr bei einem „VR Meetup“. In Berlin gibt es diese Treffen der VR-Szene bereits seit Juni 2013, alle zwei Monate treffen sich die Teilnehmer, halten Vorträge, präsentieren Projekte und diskutieren über Ideen und Umsetzung.
Wie vielfältig VR ist, zeigen auch andere Berliner Unternehmen. Gerade Startups überraschen immer wieder mit neuen Ideen. Im März wurde die Berliner Firma Viorama mit dem Gründerpreis des renommierten US-Technikfestivals SXSW ausgezeichnet. Viorama hat eine App namens „Splash“ entwickelt, mit der man mühelos 360-Grad-Videos aufnehmen kann, die Videos lassen sich anschließend auf Facebook oder auch mit der VR-Brille Google Cardboard betrachten.
Interaktive Neubauten
Derweil produziert das Berliner Startup Vade dreidimensionale, interaktive Animationen von Neubauten – so lässt sich die räumliche Wirkung schon vor Baubeginn testen. Die Firma i-mmersive hat sich auf „Virtual Ticketing“ spezialisiert: Mittels VR-Brille können Musikfans an Konzerten in aller Welt teilhaben, Bild und Ton werden live übertragen. Finanziell gefördert werden die VR-Projekte in der Hauptstadtregion unter anderem durch das Medienboard Berlin-Brandenburg. Auch an den Universitäten und Forschungseinrichtungen wird VR immer wichtiger: Gerade erst hat die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) ein 200 Quadratmeter großes Studio für Forschung und Lehre zum Thema Virtual Reality eröffnet.
Der Anfang Mai gegründete Verein Virtual Reality Berlin-Brandenburg will das Thema ebenfalls vorantreiben. „Die hiesige Medienindustrie ist sehr stark von Filmförderung abhängig. Wir wollen etwas Nachhaltigeres etablieren“, sagt Vorstandsmitglied Stephan Schindler. Schon jetzt hat der Verein 42 Mitglieder, darunter das Studio Babelsberg, die Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, das Ufa Lab, Exozet, Metropolis VR und die Mediadesign Hochschule. „Wenn es uns hier gelingt, unsere Kräfte zu bündeln und mehr gemeinsames Marketing zu betreiben, dann müssen wir uns vor der Konkurrenz nicht verstecken“, sagt Schindler. Die Hauptkonkurrenten sitzen in China und an der Westküste der USA, vor allem im Silicon Valley. „Gegenüber China können wir uns durch Qualität abheben, gegenüber den USA durch Effizienz und Preis“, ist Schindler überzeugt. „Wir setzen auf eine Kombination aus Berliner Startups und der Geschichtenerzählkompetenz aus Babelsberg“.
»Alle starten vom gleichen Punkt«
Der Verein trägt zwar VR im Titel, bezieht aber auch angrenzende Technologie mit ein, zum Beispiel Augmented Reality, Mixed Reality sowie 360-Grad-Videos und -Filme, die man auch ohne spezielle Brille auf Facebook und Youtube anschauen kann. Schindler selbst entwickelt mit seiner Potsdamer Firma Wonderlamp Industries eine Technologie, mit der man VR-Inhalte erzeugen kann, ohne selbst Animationsexperte zu sein. „Die Nutzer können virtuelle Schauspieler wie ein Theaterregisseur dirigieren.“
Die VR-Technologie steht aus Schindlers Sicht noch ganz am Anfang. „Beim Know-how gibt es keinen Unterschied zwischen einer großen Filmproduktionsfirma und einer kleinen Neugründung. Alle starten vom gleichen Punkt, das macht die Sache so spannend.“ Der Verein fördert deshalb ganz bewusst den Erfahrungsaustausch, nimmt Studierende auf und sucht die Nähe zum VR Meetup. „Eines unserer Ziele ist die Einrichtung eines Innovationszentrums“, sagt Schindler. „Dort können Startups dann VR-Technologien nutzen, ohne sie selbst kaufen zu müssen.“ Gerade für Kleinstfirmen ohne großen Investor dürfte das attraktiv sein: VR-Ausrüstung wie 360-Grad-Kameras, Raumscanner, Bewegungssensoren, Computer und Software kosten nach wie vor viel Geld.
Die Zukunft des Fernsehens?
Zu den vielversprechenden Startups gehört auch die Firma Trotzkind aus Friedrichshain, die Filme, VR-Inhalte und 3-D-Spiele produziert. Gegründet wurde Trotzkind 2014, die Firma hat zwei feste und mehrere projektbezogene Mitarbeiter. „Uns interessiert, wie sich Film und VR am besten kombinieren lassen. Das ist der Schwerpunkt unserer Technologieforschung“, erklärt Geschäftsführer Nico Nonne. „Unser zweites Standbein sind momentan Auftragsarbeiten für die Industrie, weil dort große Nachfrage nach VR herrscht.“ Zum Beispiel nach virtuellen Welten, in denen Mitarbeiter interaktiv geschult werden können – das spart den Firmen Personal-, Material- und Reisekosten.
Besonders spannend ist die Kombination aus VR und Film. Bei der Webkonferenz Republica im Mai stellte Trotzkind ein Projekt vor, das die sogenannte Fotogrammetrie nutzt: Fotos von der Berliner Mauer und vom Anhalter Bahnhof, wo der Tagesspiegel sitzt, wurden im Computer zu einem 3-D-Modell zusammengesetzt. In der virtuellen Realität können sich Nutzer dann frei zwischen den Sehenswürdigkeiten bewegen. Die Aufnahmen dazu stammten vom Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik und von der Berliner Firma Imcube. Auch mit dem ZDF hat Trotzkind schon zusammengearbeitet. Im Fernsehen der Zukunft könnte VR eine wichtige Rolle spielen, weil es Nachrichten, Dokus und Filme interaktiv und erlebbar macht.
Wird Berlin zum VR-Hub?
Nonne sieht gute Chancen für die weitere Entwicklung des VR-Standorts Berlin-Brandenburg: „In Berlin gibt es für Startups immer mehr Venture-Kapital, im Vergleich mit dem Silicon Valley ist es aber noch weit hintendran.“ Geld fließe vor allem bei Technologieprojekten und nicht so sehr bei Firmen, die Inhalte produzierten. „In der Tat sind die finanziellen Voraussetzungen im Silicon Valley besser“, sagt auch Stephan Schindler von VRagments. „Es steht einfach mehr Venture-Kapital zur Verfügung und die Risikobereitschaft ist größer als hier.“ Schindler ist aber zuversichtlich, dass die Hauptstadtregion hier Boden gutmachen kann: „Berlin zieht viele internationale Startups an. Das könnte auch bei Investoren funktionieren.“ Vor allem dann, wenn die Investoren merkten, wie lebendig die VR-Szene hier bereits sei.