Gemüsezucht am Mast. Ein Berliner Startup bietet Usern an, im Internet ihr eigenes Gemüse zu züchten. Foto: IPGarten

Vernetztes Gemüse

Lokal statt global. Mithilfe digitaler Technologie soll Gemüse künftig in der Stadt produziert werden – und am Bildschirm.

Ursprungsland: Südafrika. Wer im Supermarkt auf die Etiketten schaut, findet Trauben aus Namibia, Pfirsiche aus Chile oder Basilikum aus Israel. Wir haben uns daran gewöhnt, alle Obst-, Gemüse- und Kräutersorten zu allen Jahreszeiten kaufen zu können. Durch immer billigere Containertransporte und Kühlsysteme spiegelt auch der Preis die weite Anfahrt nicht mehr wider. Das muss sich ändern, meinen zwei Erfindergruppen in Berlin. Sie haben sich aufgemacht, die große Gemüsereise abzuschaffen – mithilfe digitaler Technologie.

„Wenn man die gegenwärtige Landwirtschaft genauer betrachtet, produziert sie vor allem gigantische Mengen an Abfall“, sagt Guy Galonska. „Wir glauben, das ist nicht mehr notwendig.“ Der 28-Jährige steht zwischen deckenhohen Regalen voller Pflanzen – mitten in Kreuzberg, draußen liegt Schnee. Die Räumlichkeiten von Infarm vermitteln die Atmosphäre einer Raumstation. In durchsichtigen Hochregalen stehen Basilikum, Kopfsalat und Rucolapflanzen, über denen weiße Leisten mit LED-Lichtern kreisen. Zwischen den Regalen aus Aluminium und Plastik stehen Gärtner auf Leitern, aus dem Nebenzimmer schreien Kreissägen.

28 Salatköpfe am Tag auf zwei Quadtratmetern

Kräuterzucht im Supermarkt. In der Metro in Friedrichshain steht bereits eine der Indoor-Farmen. Foto: Infarm GmbH

Guy Galonska bietet Kaffee an und erzählt, dass alles ursprünglich ganz anders geplant war. 2013 zog der gelernte Koch mit seinem Bruder und dessen Freundin von Tel Aviv nach Berlin, um auszuprobieren, was mit urbaner Landwirtschaft und Hydroponik derzeit möglich ist. Als sie die Räumlichkeiten in der Glogauer Straße fanden, eröffneten sie zunächst eine Mischung aus Restaurant und Gewächshaus. Dabei merkten sie schnell, dass auf engem Raum vor allem eines ein Problem ist: Man muss die Pflanzen am Anfang so weit auseinander pflanzen, dass sie noch genug Platz haben, wenn sie groß werden. Bis es so weit ist, ist der Raum dazwischen leer. Eine Verschwendung von Platz und Lichtenergie.

Also erfanden sie runde Scheiben, bei denen ein Mechanismus die Pflanzen immer dann ein Stück weiter auseinanderschiebt, wenn eine reife Pflanze geerntet wird. So stehen die jungen Pflanzen eng beieinander, die großen Salatköpfe weit genug auseinander. Weil die Lichtleisten darüber rotieren, werden die Blätter zudem gleichmäßiger beleuchtet und erzeugen in alle Richtungen mehr Blattfläche. „Wenn ein Regal einmal angelaufen ist, produziert es auf zwei Quadratmetern 28 Salatköpfe am Tag“, lächelt Galonska. Inzwischen hat sich Infarm ganz auf die technische Entwicklung von Hydroponik und vertikaler Landwirtschaft spezialisiert. 2014 stiegen zwei Investoren ein. Heute arbeiten bei Infarm mehr als 25 Designer, Pflanzenphysiologen, Programmierer, Businessexperten und Ingenieure. Zwei der Farmen stehen in Metro-Supermärkten in Berlin und Antwerpen, die EU fördert Infarm mit zwei Millionen Euro.

Künstlich intelligente Pflanzenzucht

Aber wie kann es sich lohnen, mitten in der Stadt mit hohem Energieaufwand Pflanzen zu züchten? „Das ist einfach“, sagt Alain Scialoja, „der Energieaufwand ist nicht hoch.“ Der geborene Italiener ist Chief Digital Officer in dem Start-up und hat Robotik studiert. Inzwischen hat er sich vor allem auf Datenanalyse und künstliche Intelligenz spezialisiert. Scialoja öffnet einen der Schränke oberhalb des Bodens. Dort befinden sich verschiedene Kanister und jede Menge Elektronik. Die Wurzeln der Pflanzen darüber stecken in Substrat, das automatisch bewässert wird.

Gemüse im Kopf. Ingenieur Alain Scialoja und Infarm-Mitgründer Guy Galonska. Foto: Infarm

Er hält sein Smartphone an das Pflanzregal. Auf dem Display erscheinen Diagramme über den Zustand der Farm: PH-Wert, Luftfeuchtigkeit, Nährwerte, Temperatur, Lichtmenge. „Wenn man erst einmal alles kennt, was in der Pflanze landet, kann man extrem genau steuern, was gebraucht wird und was nicht“, erklärt er die Grundidee dahinter. Es wird immer genug Licht aus den selbst entwickelten LEDs ausgestrahlt, aber nicht mehr. Es wird immer genug Wasser zugeleitet, aber nie unnötig viel. Doch die Pläne von Scialoja reichen noch weiter. Er misst auch Größe, Form, Dichte und Farbe der Pflanzen beständig über Kameras. Mithilfe von Statistik und künstlicher Intelligenz findet er so neue Muster in den Pflanzendaten. Von wo genau muss das Licht kommen, damit die Blätter größer werden? Wie hängt die Höhe des Basilikums mit dem PH-Wert zusammen? Und immer wieder: Wo lässt sich noch mehr Energie sparen? Alain Scialoja liebt diese Arbeit. Er hat sich immer gefragt, wie sein Interesse für Maschinen und Pflanzen zusammenpassen. In Kürze wird er dazu noch mehr Gelegenheit haben: Gerade hat Infarm eine 5000 Quadratmeter große Halle am Rande Berlins angemietet. Dort soll ihre “City Hub Farm” entstehen.

Am eigenen PC echtes Gemüse züchten

Die sieben Bastler des Start-ups IPGarten sind ebenfalls in einer ehemaligen Fabrik zu finden. In diesem Fall in der Malzfabrik in Schöneberg. Und auch sie wollen unseren Gemüsekonsum auf den Kopf stellen. Allerdings von der anderen Seite. Martin Kruszka, Gründer von IPGarten, kaufte einen alten Bauernhof in Warnau, Sachsen-Anhalt – als Fluchtort aus der Großstadt mit den Kindern.

7500 Quadratmeter gehörten dazu, die ließ er brach. Als die Kinder zum Spaß Samen aussäten, war bei der nächsten Rückkehr plötzlich alles voller Gemüse. Aus der Überraschung wurde die Frage, wie man die Pflanzen bewässern kann, ohne ständig anwesend zu sein. Im Netz suchte er nach einer Lösung. „Aber stattdessen fanden wir nur Farmville und unzählige weitere Spiele“, sagt Kruszka. Da kam ihm eine Idee: [Wenn die Leute so gern Bauer am Computer spielen]((http://digitalpresent.tagesspiegel.de/pflanzenbestimmung-per-app), wäre es doch geschickt, sie würden dabei echtes Gemüse züchten.

Im Internet züchten, zu Hause essen

Ernte vor Berlin. Martin Kruszka mit der Ernte nach dem ersten Probejahr 2015. Foto: Hendrik Lehmann

Das Ende der Überlegungen ist ein zwei Meter hoher Plastikmast, ausgestattet mit Kameras, kleinen Scheinwerfern, Spritzpistolen und angeschlossen ans Internet. Vom Mast aus kann man per Kamera je vier Parzellen á 16 Quadratmeter betrachten. Die Kunden können für 395 Euro pro Jahr eine Parzelle mieten. Im Winter klicken sie auf der Webseite der Firma an, welche Pflanzen auf ihrer Parzelle ausgesät werden. In der Saison sehen die Onlinebauern über Kamera und Sensoren beispielsweise, ob die Erde feucht genug ist oder ob Unkraut wuchert. Bewässern können sie selbst. Unkrautjäten oder Biodünger müssen sie extra zahlen.

Das reife Gemüse wird wöchentlich gepflückt und nach Berlin geliefert. Alternativ kann man es der Obdachlosenhilfe spenden. 2016 hat IPGarten die Plattform mit 20 Testkunden ausprobiert, dieses Jahr sollen es 100 werden. Anmelden kann man sich bereits. „Unser Ziel ist, dass die Leute wieder mehr darüber lernen, wie Gemüse produziert wird“, sagt Kruszka. Wirschafte man richtig, bekomme man mehr Ertrag heraus, als dieselbe Menge Gemüse im Biosupermarkt kostet.

So surreal die Pläne von Infarm und IPGarten scheinen, die weltweiten Investitionen in Agtech und Digital Farming sind laut einer Studie der Innovationsplattform Cube 2015 um zusammen 1,5 Milliarden Dollar gestiegen. Bis wir alle Kräuter im Supermarkt ernten und Kürbis per Handy züchten, wird es wohl trotzdem noch ein paar Jahre dauern.