Virtual Reality: Verflixte Freiheit
Die Zukunft beginnt mit einer Enttäuschung. Der Bildschirm bleibt schwarz, kein Ton, kein Anzeichen, dass hier gleich ein Film startet. Also Brille wieder runter, ein Mitarbeiter der Ausstellerfirma fummelt daran herum, ein zweiter kommt hinzu. Ach so, sagt der, na klar, der Developer-Modus sei nicht eingeschaltet gewesen, da könne „Tomorrow“ natürlich nicht laufen.
Die beiden Kurzfilme, für die man sich zuerst entschieden hatte, funktionierten ebenfalls nicht. Mit denen gebe es ein grundsätzliches Problem, sagt der Mitarbeiter. Der dritte Film bricht nach der Hälfte ab. Tschuldigung, sagt die Frau am Zentralcomputer, sie habe aus Versehen den falschen Knopf gedrückt.
Deshalb nun „Tomorrow“. Ein Siebenminüter des Spaniers Nicolás Alcalá. Im Grunde bloß ein Rundflug durch eine Fantasiewelt, beginnend in einer Höhle, in der ein Stamm Primitiver ein Neugeborenes feiert, dann hinaus in eine Schneelandschaft über angeweißte Tannen hinweg bis zu einem See, über dem ein Ufo schwebt.
Weil einem der Bildschirm in Form einer Virtual-Reality-Brille direkt auf der Nase sitzt und der Apparat kleinste Bewegungen seines Trägers registriert, kann der Zuschauer selbst entscheiden, in welche Himmelsrichtung er während des Flugs schaut. 360-Grad-Technik nennt sich das. Untermalt wird der Film mit kitschigem Klassikbombast. Eine Frauenstimme aus dem Off spricht dazu pathetische Sätze wie „Technik zeigt uns mehr, als das Auge sehen kann“ und schwärmt von einer „neuen Technologie, die das Potenzial hat, alles zu verändern“. Man ist froh, wenn die sieben Minuten endlich vorbei sind.
Die Nachfrage nach Abspielgeräten explodiert
Virtual Reality, kurz VR, also das Eintauchen in eine digital vorgetäuschte Realität, gilt als boomende Zukunftsbranche mit nahezu unbegrenzten Einsatzmöglichkeiten. Glaubt man den Entwicklern und Visionären der großen IT-Konzerne, können Menschen dank VR bald Sportveranstaltungen und Konzerte besuchen, Ärzte konsultieren und einkaufen, ohne die Wohnung zu verlassen. Einfach Brille auf und los.
Die Nachfrage nach den Abspielgeräten explodiert gerade. Allein im kommenden Jahr sollen 18 Millionen Stück verkauft werden. Bei Computerspielen kommt die Technik schon erfolgreich zum Einsatz. Aber was ist mit der Illusionsmaschine Film? Kann VR da auch helfen – vielleicht sogar eine ganze Kunstform revolutionieren?
Die Kurzfilme, die im Rahmen des „European Film Markets“ in Glaspavillons vor dem Gropius-Bau gezeigt werden, deuten die Chancen an – und die Hindernisse, die dem Siegeszug von VR im Kino noch im Wege stehen. Zum Beispiel das australische „Burlesque Redlight“. Nach Aufsetzen der Brille findet sich der Zuschauer in der Mitte eines Clubs wieder, zu allen Seiten stehen Gäste, eine Band spielt, eine Frau singt, es wird getanzt. Auch hier kann der Zuschauer dank 360-Grad-Technik frei wählen, in welche Richtung er guckt.
Statt Bereicherung entsteht Überforderung
Theoretisch könnte das eine Bereicherung sein. Die Möglichkeit, das Filmerlebnis realer wirken zu lassen. Tatsächlich bedeutet es Überforderung. Vor lauter Gewimmel weiß der Zuschauer schlicht nicht, worauf er seinen Blick richten soll – und muss Angst haben, die eigentlich relevante Handlung zu verpassen. Die könnte schließlich jederzeit in einer unbeobachteten Ecke des Raums passieren.
Was für ein schrecklicher Gedanke: bei „Titanic“ den Moment zu verpassen, in dem das Schiff gegen den Eisberg kracht, weil man gerade Backbord den Sternenhimmel genießen wollte. Um wie viel öder wäre die erste T-Rex-Attacke in „Jurassic Park“, wenn man sich nicht erst über den Wasserbecher wunderte, auf dessen Oberflächen sich konzentrische Kreise bilden.
Es ist paradox. Mit der virtuellen Realität schenkt der Regisseur dem Zuschauer die Freiheit, den Blickwinkel selbst zu wählen – und muss ihn trotzdem dazu bringen, genau dorthin zu schauen, wo es erforderlich ist. Für diese Aufmerksamkeitsklenkung stehen Werkzeuge des klassischen Films wie Kameraführung, Schnitt und Zoom nicht zur Verfügung. Ein mächtiges Instrument ist der Ton. Ein Geräusch kann den Zuschauer verführen, in die gewünschte Richtung zu schauen. Auch Beleuchtung mag helfen. Bei „Burlesque Redlight“ funktioniert beides nicht.
Die Menschen stehen Schlange für eine 50-Dollar-Karte
Im Lichthof des Gropius-Baus sitzt Stephan Schindler. Er ist Vorsitzender des Vereins „Virtual Reality Berlin-Brandenburg“, eines Zusammenschlusses von 45 Firmen aus der VR-Branche. Gemeinsam wollen sie ein Gegengewicht zu den Marktführern in Kalifornien und China bilden. Schindler sagt, VR befinde sich heute auf demselben Stand wie der Film Ende des 19. Jahrhunderts, als er noch bloße Jahrmarktsattraktion war. Soll heißen: ganz am Anfang. Und trotzdem bereits beeindruckend.
Etwa die Technik, die im Europapark Rust bei Freiburg eingesetzt werde. Die uralte, im Vergleich zu neueren Modellen lahme Achterbahn „Alpenexpress“ wurde mit VR-Brillen aufgepeppt. Während der Gast in der Bahn Runden dreht, suggeriert ihm die Brille, er reite auf einem Drachen. Schon kommen ihm die Neigungen extremer und die Geschwindigkeiten rasanter vor. In Utah eröffnet ein Start-up demnächst den Vergnügungspark „The Void“, in dem Besucher ausschließlich VR-Welten erleben. Der Gründer verspricht das „Imax-Kino der Virtual Reality“. Eine Filiale in Deutschland soll folgen.
Stephan Schindler sagt, VR werde das klassische Leinwandkino nicht verdrängen. Aber in der Zukunft könne eine Vorstellung durchaus darin bestehen, dass 200 Menschen auf einem Hallenboden sitzen, jeder mit eigener Brille, jeder in seiner eigenen Realität. In New York gibt es gerade einen Testlauf. Dort kann man Szenen des Films „Ghostbusters“ in VR nachspielen. Die Karte kostet 50 Dollar. Die Menschen stehen Schlange.